Die Hauptunterschiede zwischen den Projekten bestehen jedoch im Hinblick auf ihre Beschreibungstiefe, im Hinblick auf die zur Verfügung stehenden Personalressourcen und die benötigte Bearbeitungszeit. Der Census soll kein ausgefeilter wissenschaftlicher Bestandskatalog sein, sondern ein Bibliotheken-übergreifendes Inventar für den westfälischen Landesteil Nordrhein-Westfalens. Insofern hieße es, Äpfeln mit Birnen zu vergleichen, wollte man den oben angesprochenen Vergleich weiter strapazieren. Allerdings soll der Census "die Grundlage für die spätere ausführliche Erschließung nach DFG-Richtlinien bilden" (HCW, S. V). Das erscheint aus praktischen Gründen auch sinnvoll zu sein, denn die Bearbeiter fanden im Gegensatz zu den süddeutschen Verhältnissen in Nordrhein-Westfalen insgesamt weniger mittelalterliche Handschriften bei einer umso größeren Zahl an heutigen Besitzern vor: Die in dem vorliegendem Band aufgeführten 972 Handschriften werden "an 83 Orten Westfalens in 138 (mitunter sehr kleinen) Beständen aufbewahrt" (S. VI).
Die Anfänge des westfälischen Census gehen auf eine Initiative von
Ferdinand Seibt (Ruhr-Universität Bochum) zurück, der von 1984 bis zu
seiner Emeritierung an dem Projekt einer Erfassung von Handschriften,
Inkunabeln und Druckschriften in Westfalen für die Zeit von 1300
- 1550 arbeitete. Seit 1993 führte die Universitäts- und
Landesbibliothek Münster diese Arbeiten als Handschriftencensus
Westfalen fort, wobei Inkunabeln und Drucke ausgegliedert,[4] der
bearbeitete Zeitraum aber auf das gesamte Mittelalter bis 1550
ausgedehnt wurde.
Welche Angaben macht der Census zu den einzelnen Handschriften? Das
verwendete Kategorienraster wurde "weitgehend dem vom
Handschriftencensus Rheinland[5] erarbeiteten Erfassungsformular" (S.
XXIII) angeglichen. Ziel der Beschreibung mittels Autopsie ist es, die
Handschriften "nach ihrem Äußeren und Inhalt für den späteren
Benutzer" zu erschließen und "eindeutig identifizierbar" zu machen (S.
XXIII). Im einzelnen werden soweit möglich genannt: heutiger
Aufbewahrungsort und Bestand mit Signatur, Verfasser und Werktitel
(evtl. eigene Ansetzung), Angaben zur Sprache der jeweiligen Texte
(komplett lateinische Bände ausgenommen). Die äußere Beschreibung
besteht aus: Beschreibstoff, Blattzahl, Format (Buchblock), ggf.
Spaltenzahl und summarischen Hinweisen auf Buchschmuck sowie
Schriftheimat und -datierung. Zum Inhalt der Handschrift werden die
mit vertretbarem Aufwand ermittelbaren Autoren und Werktitel genannt.
Darauf folgen Angaben zur Geschichte der Handschrift (Schreiber,
Vorbesitzer, Beziehungen zu anderen Handschriften) und zu Editionen
und zur Sekundärliteratur, sofern diese die betreffende Handschrift
berücksichtigen. Im Gegensatz zum Handschriftencensus Rheinland hat
man auf manche weniger sinnvolle Kategorie (wie z.B. die für die
Identifizierung früher Drucke eher als für Handschriften geeigneten,
sogenannten fingerprints)[6] verzichtet. Leider fehlen auch im HCW
Initien (und demnach auch ein entsprechendes Register) - Bestandteile
der Handschriftenbeschreibung, die zumindest für die nicht oder nicht
sicher identifizierten Werke als unverzichtbar anzusehen sind.
Die bereits nach DFG-Richtlinien katalogisierten Handschriftenbestände
der Universitäts- und Landesbibliothek Münster[7] und der
Wissenschaftlichen Stadtbibliothek Soest[8] sind im Anhang (S. 359
- 392) in stark gekürzter Form enthalten, um zu der angestrebten
Vollständigkeit für die bearbeitete Region beizutragen. Besonders
verdienstreich sind die gesammelten Angaben zu Handschriften in
westfälischem Privatbesitz, wobei die heutigen Besitzverhältnisse
sowie evtl. vorhandene historische Hinweise darauf anonymisiert
wurden. "Wissenschaftlich Interessierten kann zu einzelnen
Handschriften - vorbehaltlich des Einverständnisses der Eigentümer
- durch die Universitäts- und Landesbibliothek Münster oder durch das
Westfälische Archivamt in Münster weitere Auskünfte erteilt werden"
(S. XXI).
Ohne im einzelnen auf die Einträge einzugehen, sei hier doch ein
Beispiel erwähnt, das zeigt, wie ertragreich auch die Recherche für
die kurzgefaßten Census-Artikel sein kann: die unter der Census-Nummer
668 aufgeführten Sermones de sanctis des Conradus de Saxonia aus der
Paderborner Bibliothek des Franziskanerkonvents (S. 307). Diese
Handschrift wird in der noch immer maßgeblichen Arbeit Richard Marks
über die Bibliothek der Kölner Kartause St. Barbara in seiner
Konkordanz der Sir-Thomas-Philipps-Nummern mit den alten Signaturen
der Kölner Kartause als verschollen bezeichnet.[9] Die eingehende
Benutzung des Census wird noch viele weitere erfreuliche Entdeckungen
und Wiederentdeckung ermöglichen, sie wird aber auch manche Lücke oder
manchen Fehler im Detail zu Tage fördern, die hier nicht diskutiert
werden müssen.
Erschlossen wird der Band durch Verfasser-, Titel-, Personen- und
Ortsregister. Das Personenregister faßt dabei Schreiber, Vorbesitzer
und andere erwähnte Personen in einem Alphabet zusammen,
Vergleichbares gilt für die Schriftheimat, für Körperschaften als
Besitzer und andere geographische Angaben im Ortsregister; damit
entfallen Doppel- und Mehrfachnennungen. Durch die Verwendung von
Abkürzungen für die jeweilige Art der Orts- oder Personenangabe wird
dennoch eine differenzierte Suche im Register ermöglicht. Leider fehlt
dem Band ein Abkürzungsverzeichnis, was trotz der Verwendung "der in
Handschriftenkatalogen üblichen Abkürzungen" (S. XXV, Anm. 32) von
jedem sorgfältig erstellten, wissenschaftlichen Werk erwartet werden
darf. Weiter ist das Fehlen eines Sachregisters zu beklagen.
Dennoch stellt der Handschriftencensus Westfalen ein nützliches
Instrument für Forschungen über mittelalterliche und frühneuzeitliche
Handschriften dar. Es wird in keiner größeren Handschriftenabteilung
wissenschaftlicher Bibliotheken fehlen. Eine auf dem Census
aufbauende, gründliche Katalogisierung der Handschriften nach den
DFG-Richtlinien bleibt weiterhin auch für die "schwierigen" Bestände
in Nordrhein-Westfalen zu wünschen.
Johannes Mangei
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