Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 8(2000) 1/4
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"Fitzebutze"


00-1/4-035
"Fitzebutze" : 100 Jahre modernes Kinderbuch ; eine Ausstellung des Schiller-Nationalmuseums und des Deutschen Literaturarchivs Marbach am Neckar ; 18. Juni - 27. August 2000 ... im Humboldt-Saal des Deutschen Literaturarchivs / [Ausstellung und Katalog: Roland Stark. Unter Mitw. von Silke Becker-Kamzelak ...]. - Marbach am Neckar : Deutsche Schillergesellschaft, 2000. - 319 S. : Ill. ; 21 cm. - (Marbacher Kataloge ; 54). - ISBN 3-933679-33-8 : DM 30.00
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Mit einer Ausstellung zum Fitzebutze, dem Bilderbuch von Paula und Richard Dehmel, das dem modernen Kinderbuch in Deutschland zum Durchbruch verhalf, hat sich das Deutsche Literaturarchiv in Marbach nach einer Kabinett-Ausstellung zum hundertsten Geburtstag Erich Kästners[1] erneut dem Kinder- und Jugendbuch zugewandt. Durch die Nachlässe von Erich Kästner und Michael Ende hatte das moderne Kinderbuch bereits im Literaturarchiv Einzug gehalten und mit ihnen die Einsicht, das es "zu den wichtigen Elementen in der Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts" gehört.

Der Kinderbuchsammler Roland Stark hatte diese Ausstellung angeregt und auch gestaltet, er verfaßte dazu einen umfangreichen und gut illustrierten Katalog. Richard Dehmel wollte, wie er im September 1899 an Rudolf Alexander Schröder, den Mitbegründer des Insel-Verlags schrieb, "ein Buch für Kinder in die Welt setzen, das den 'Struwwelpeter' aus dem Feld schlagen soll. Also ein Buch, das sich in Vers wie Bild wirklich an kindliche Herzen und Sinne, aber mit völlig künstlerichen Wirkungsmitteln wenden soll..."

Der Struwwelpeter, das wohl bisher erfolgreichste Bilderbuch, stellte bei seinem Erscheinen Mitte des 19. Jahrhunderts etwas völlig Neues dar. "Dem Kind werden ohne die bisher obligatorischen weltlichen oder himmlichen Strafandrohungen und ohne deutliche moralische Nutzanwendungen, aber dafür in kindgerechter Erlebnisnähe Geschichten erzählt, die weit entfernt von den üblichen Klischees die Phantasie zu Gegenbildern anregen und eine (erstmals offen dargestellte) Konfliktsituation miterleben lassen. Die Geschichten selbst enden ohne das bislang übliche moralische Fazit - sie sprechen in Bild und Wort für sich selbst und überlassen dem Kind die Schlußfolgerung für seine eigenständige Erlebniswelt." Da Der Struwwelpeter für Richard Dehmel "Maßstab und Vorbild" war, beginnt mit ihm die Ausstellung. Andere Außenseiter der Kinderliteratur wie Max und Moritz von Wilhelm Busch oder die Bilderbücher von Franz Graf Pocci und Lothar Meggendorfer werden vorgestellt. Um die Bedeutung des Dehmelschen Bilderbuches verständlich zu machen, werden die mißliche Situation auf dem Kinderbuchmarkt der letzten zwei Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts dargestellt und die Bestrebungen der Jugendschriftenbewegung, deren Anstrengungen sich Dehmel anschloß, erläutert.

Paula und Richard Dehmels literarisches Schaffen für Kinder, ihre Gedichte, Märchen und Erzählungen werden ausführlich gewürdigt. Minuziös wird dann die Entstehungsgeschichte des Fitzebutze und des Buntschecks, ihren Hauptwerken für Kinder, geschildert. Zeitgenössische und spätere Kritiken belegen die Resonanz der Werke. Die Bedeutung des Fitzebutze als erstes modernes Bilderbuch wurde wohl von vielen Zeitgenossen erkannt, teils euphorisch begrüßt, von einigen aber auch abgelehnt und als "verderbliches Machwerk verdammt". Reformpädagogen begriffen es als ein Buch vom Kinde aus, weil in ihm nicht der Erwachsene zum Kind zu sprechen scheint, sondern das Kind selbst zu Worte kommt und das Bild dem Kinde genügend Freiheit für seine Phantasie läßt. Die teilweise ins Karikierende gehenden Bilder Ernst Kreidolfs waren ebenso neuartig in ihrer eindeutig den Text begleitenden Bildsprache, die jede Niedlichkeit vermied. Der Fitzebutze brach die verkrusteten Formen des Kinderbuches auf und wirkte nicht nur auf seine kindlichen Leser, sondern vor allem auf die weitere Entwicklung des Kinderbuches. Das wird durch Bilderbücher von Mitstreitern, Angeregten und Nachfolgern ausführlich dokumentiert. Die Bilderbücher von Karl Hofer, K. F. von Freyhold, Christian Morgenstern, Kurt Schwitters, Karl Arnold, Tom Seidmann-Freud sowie Bertolt Brecht und George Grosz, Joachim Ringelnatz, Erich Kästner und weniger Anderer werden vorgestellt und dabei erklärt, daß diese eher eine Ausnahme bilden. Die Neugestaltung des Kinderbuches ist in Deutschland weder künstlerisch noch literarisch kontinuierlich fortgeführt worden. Erst mit der 68er-Bewegung kamen grundlegend andere Kinderbücher auf den Markt.

Ein verlegerischer Erfolg wurde der Fitzebutze nicht. Erst nach über zwanzig Jahren erschien das 16.-18. Tausend, ohne allerdings noch großen Widerhall zu finden. Während einzelne Gedichte der Dehmels lebendig blieben, besann man sich auf den Fitzebutze erst Ende der sechziger Jahre. Doch wird er jetzt nicht den Kindern angeboten. Eine Faksimile-Ausgabe der Edition Leipzig wendet sich mit ihm als nostalgisches Dokument an Sammler. Sie fand auch großes Interesse. 1975 wurde eine zweite Auflage notwendig und der Insel-Verlag in Frankfurt a.M. ließ zugleich eine Ausgabe zu seinem Verlagsjubiläum mitdrucken. 1982 erschien eine weitere Faksimile-Ausgabe des Fitzebutze in einer Kollektion von 27 Reprints alter Kinderbücher, die der Rezensent mit Kommentaren für japanischer Sammler in Tokyo herausgegeben hatte.

Dem zweiten bedeutenden Kinderbuch Richard Dehmels, dem 1904 erschienenem Buntscheck, war ebenfalls kein verlegerischer Erfolg beschieden. Eine zweite Auflage folgte erst nach acht Jahren. 1985 erschien bei Edition Leipzig eine Faksimile-Ausgabe als Band 32 der Reihe Historische Kinderbücher. Leider wird auf diese Ausgabe weder hingewiesen noch wird sie erwähnt. Das ist bedauerlich, enthält sie doch eine ausführliche Schilderung der Entstehung des Buntscheck von Sabine Knopf (ebenfalls aus dem Nachlaß Richard Dehmels in der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky recherchiert) mit einer Übersicht aller Autoren und Künstler des Buntscheck mit kurzen Lebensdaten. Solch eine fehlt im Katalog. Dort werden noch nicht die Hälfte der 26 Mitarbeiter vorgestellt oder erwähnt und dazu oft ohne Lebensdaten. Das Nachwort von Sabine Knopf zur Faksimile-Ausgabe von Paula Dehmels Auf der bunten Wiese jedoch wird erwähnt, allerdings ohne jede Angabe des Ortes, Verlags und Erscheinungsjahres.

In den sechziger Jahren setzen auch die literaturgeschichtlichen Wertungen des Fitzebutze ein und er bekommt seinen Rang als "epochales Werk" bestätigt. James Krüss bezeichnet die Dehmels als "die Erneuerer des Deutschen Kindergedichts" und die "konsequentesten Dichter für das emanzipierte Kind." Von Hans-Heiner Ewers wird der Fitzebutze "als das Manifest der kinderlyrischen Reform der Jahrhundertwende" bezeichnet.

Der Katalog ist mit zahlreichen Photos der Dehmels und ihrer Mitstreiter und Nachfolger sowie mit Abbildungen aus den erwähnten Bilderbüchern geschmückt. Er folgt genau dem Aufbau der verdienstvollen Ausstellung und bewahrt so Abbildungen, Dokumente und Interpretationen auf. Er hat aber keine bibliographischen Ambitionen. Der Umfang der ausgestellten Bücher wird nicht vermerkt und bei den Titelaufnahmen wird jeweils nur das Jahr der gerade vorliegenden Ausgabe angegeben. So erfährt man oft nicht das Jahr der Erstausgabe. Ein Verzeichnis der zahlreichen Leihgeber sowie ein Personenregister beschließen den Katalog. Hervorgehoben werden muß noch die Wiederentdeckung des 1901 von Gustav Pauli auf der Kunsterziehungstagung in Dresden gehaltenen Vortrages über Das Bilderbuch, der im Katalog abgedruckt wird. - Insgesamt ein sehr informativer Katalog, der zugleich einen präzisen Abriß der Geschichte des modernen deutschen Bilderbuches bietet.

Heinz Wegehaupt


[1]
Emil, Lottchen und der kleine Mann : Erich Kästners Kinderwelt / bearb. von Ute Harbusch. ... - Marbach am Neckar : Deutsche Schillergesellschaft, 1999. - 95 S. : Ill. ; 21 cm. - (Marbacher Magazin ; 86). - ISBN 3-933679-18-4 : DM 12.00.
Zu Kästner vgl. auch: Erich Kästner und Walter Trier : eine fast vollständige Büchersammlung & Bibliographie der beiden Moralisten und Menschenkenner. - Heidelberg : Antiquariat Hatry, 1994. - 118 S. ; 21 cm. - (Katalog / Antiquariat Hatry ; 5). - DM 23.00. - (Antiquariat Hatry, Plöck 93a, 69117 Heidelberg) [2476]. - Rez.: IFB 95-2-220. (zurück)

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