Marie Avril und die russische Kunsthistorikerin Ella Gankina, die vor ihrer Übersiedlung nach Jerusalem Cheflektorin im Moskauer Verlag der Kunst war, skizzieren die Entwicklung der russischen Kinderliteratur und ihrer Illustrationen. Herausgehoben wird die Illustrationskunst der fast vier Jahrzehnte von 1917 - 1945. Die Jahre von der Jahrhundertwende bis 1917 standen noch unter dem Einfluß Bilibins, der in seinen Märchenillustrationen russische Folklore und altrussische Kunst mit ornamentalen Stilisierungen und Jugendstilelementen verbunden hatte. Das erste Jahrzehnt nach der Oktoberrevolution brachte völlig Neues. Eine variationsreiche Bilderbuchwelt entstand. Die Kinderliteratur wurde als wichtiges Erziehungsmittel im sowjetischen Bildungssystem angesehen und staatlich gefördert, aber noch nicht wie später reglementiert und eingeengt. Neue Themen wie Arbeitswelt, Stadt, Technik fanden Eingang in das Bilderbuch. Entscheidend aber war die Experimentierfreudigkeit der Künstler. Es wurde Neues probiert. Illustrationen in reduzierter abstrakter Form- und Farbgebung entstanden. Typographische Elemente wurden verwandt, überhaupt waren der Formspielerei keine Grenzen gesetzt. Im Leningrader staatlichen Kinderbuchverlag wirkten Marschak und der Illustrator Lébédew, die selbst nicht nur gemeinsam viele Kinderbücher schufen, sondern auch für das hohe Niveau der Illustrationen des Verlages verantwortlich waren, so daß man von einer "Leningrader Schule" sprechen kann.
Mit der Propagierung des "Sozialistischen Realismus" 1934 ist die Zeit des russischen Avantgardismus in der Kunst längst vorbei. Als "formalistisch" diffamiert, als "diejenigen, die den Geist der Kinder deformieren und verstümmeln" kritisiert, emigrierten viele Künstler. Andere beschränkten sich auf einen trocknen Realismus oder wandten sich Tiergeschichten zu, wie Carusin oder der Folklore wie Mavrina. Ella Gankina schrieb, "die Geschichte der Kunst zwischen 1917 und 1945 war blendend und tragisch". 1937, zur Zeit, als auf der Pariser Weltausstellung sowjetische Kinderbücher prämiert wurden, verschwanden russische Künstler in Stalins Lagern. In den Magazinen der Museen und Bibliotheken haben die künstlerischen Objekte zwar diese Zeiten überdauert, die Situation der Künstler selbst konnte leider nicht dargestellt werden. Die Kurzbiographien weisen bei den Lebensdaten auch viele Lücken auf, bei über einem Viertel sind sie unvollständig. Die offizielle Wertschätzung dieser Illustrationen hat sich in der Sowjetunion allmählich geändert. In den dreißiger und vierziger Jahren verfemt, in den sechziger, als Ella Gankina über diese Illustrationen promovierte, wurde sie heftig kritisiert, konnte aber immerhin ihr Buch veröffentlichen. In den siebziger Jahren erschienen dann sogar Reprints der Bilderbücher aus den zwanziger Jahren mit sehr umfangreichen Kommentaren und Biographien der Autoren und Illustratoren.
Das vorliegende biographische Nachschlagewerk verzeichnet fast zweihundert Künstler. Der Haupttitel gibt korrekt den Inhalt wieder. Es werden Künstler vorgestellt, die aus Rußland oder aus nichtrussischen Republiken der Sowjetunion stammen. Jedem Künstler ist mindestens eine Seite gewidmet, einigen acht, Lébédev sogar 16. Der vorangestellte Name des Künstlers wurde nach der französischen Transkription, die von der deutschen erheblich abweicht, übertragen. Darunter wird der Name in kyrillischer Schrift wiederholt. Die alphabetische Ordnung der Namen erfolgt aber nach der französischen Transkription. Das Personenregister verzeichnet alle Namen ebenfalls nur nach dieser Transkription. Eine Transkriptiontabelle ist dem lexikalischen Teil vorangestellt. Die Kurzbibliographie enthält Geburts- und Sterbejahr, Geburtsort sowie künstlerische Ausbildung, Werdegang und Wirksamkeit. Dazu werden einige Titel der vom Künstler illustrierten Werke genannt. Bei vielen wird mit Angabe der Titelzahl auf die Bibliographie in Ella Gankinas Buch Russkie chudozniki detskoj knigi (Moskva, 1963) verwiesen. Jeder Künstler ist mit mindestens zwei Abbildungen aus seinen Büchern vertreten. Die jeweilige Wertschätzung kann man wohl an der Anzahl der Abbildungen erkennen. So ist z.B. Deineka mit 16, Konasevic und Carusin mit je 26 und Lébédew sogar mit 45 Abbildungen vertreten. Leider sind alle Abbildungen nur schwarz-weiß und in nicht sehr guter Qualität wiedergegeben. Zu diesen Illustrationsbeispielen gibt es exakte Titelaufnahmen mit Anzahl, Art und Technik der Illustrationen sowie Annotationen, Inhaltsangaben und Standortnachweis. Der größte Teil der Vorlagen stammt aus den Sammlungen der Pariser Jugendbibliothek L'Heure Joyeuse.
Neben dem Personenregister gibt es ein Register der Verlagsorte, allerdings ohne St.Petersburg / Leningrad, Moskau und Paris. Das ist bedauerlich, denn über den Verlagsort Paris hätte man leicht die Werke russischer Künstler im Exil finden können. Das Register der Sprachen verweist außer auf hebräisch nur auf Sprachen der Sowjetunion, obwohl auch sehr viele Bilderbücher in französischer Sprache vorgestellt werden. Besonders Père Castor hat für seine Bilderbuchreihe Albums du Père Castor im Verlag Flammarion viele emigrierte Künstler beschäftigt.
Das Lexikon gibt einen guten Überblick über das Niveau der
Kinderbuchillustrationen dieser vier Jahrzehnte. Unter den
Illustratoren befinden sich klangvolle Namen wie Chagall oder
Lissitsky, es fehlen aber auch einige in diesem Verzeichnis. Ein
Vergleich mit dem Katalog einer kleinen Ausstellung des
Schweizerischen Jugendbuch-Instituts[1] in Zürich zeigt, daß über ein
Dutzend Illustratoren, deren Bilderbücher in den dreißiger Jahren
erschienen waren, nicht verzeichnet sind. Einige werden nur erwähnt,
wie Alfeevskij und Kustodiev, obwohl sie in der Bibliographie bei
Gankina mit einer Kurzbiographie und einer umfangreichen Titelliste
vorgestellt werden.
Dennoch gibt das Lexikon Auskunft über eine große Anzahl von
Künstlern, die zwischen 1917 und 1945 in einem bisher wenig beachteten
und erschlossenen Bereich, dem Kinderbuch, gewirkt haben. Die Künstler
stammen noch dazu aus einem Territorium, aus dem es lange schwer war,
über Personen Auskunft zu erhalten. Nicht zuletzt deswegen ist dieses
Nachschlagewerk besonders zu begrüßen.
Heinz Wegehaupt
Zurück an den Bildanfang