An Persönlichkeiten wurden solche einbezogen, die im Bereich Rußlands und der ehemaligen UdSSR (ohne Baltikum und Polen) eine wichtige Rolle in Politik, Militär, Kultur (Literatur, Musik, bildende Kunst, Kirche, Wissenschaft, Bildung) und Wirtschaft gespielt und "beachtliche Spuren hinterlassen haben". Berücksichtigt sind nur Verstorbene. Bei berühmten Geschlechtern wurden neben den Personenartikeln oder an ihrer Stelle solche über das Geschlecht aufgenommen.
Zu den bekanntesten Persönlichkeiten gehören Friedrich von Bodenstedt (1819 - 1892), ein früher, wichtiger Übersetzer russischer Literatur, Friedrich Joseph Haas (1780 - 1853), der Segen für die Gefangenen, an dessen Grabmal in Moskau noch in diesem Jahrhundert Blumen niedergelegt werden, und Sigismund von Herberstein (1486 - 1566), dem Westeuropa auf sehr lange Zeit seine Gesamtvorstellung des alten Rußland verdankte. Alle diese Artikel haben Russen geschrieben, deutsche Sekundärliteratur wird nicht erwähnt, nicht einmal Monographien. Es wird auf russische Lexika verwiesen, nicht auf deutsche. Für bisher kaum beachtete Personen, bei denen neue Forschung geleistet wurde, seien zwei Beispiele angeführt: Johannes Harder (1903 - 1987), der aus einer in Rußland vor 1914 aktiven Kaufmannsfamilie stammt und sich nach 1933 durch Aktivität gegen die "Deutschen Christen" und etliche Bücher einen Namen erwarb, und Oskar Geilfuß (1933 - 1981), ein Komponist, der 1945 aus der Gegend von Odessa nach Kasachstan verbannt worden war und 1981 nach Deutschland emigrierte. Beide Artikel von Annelore Engel-Braunschmidt gehören zu den im Original belassenen.
Eine Reihe wichtiger Sachartikel wurde von deutschen Wissenschaftlern verfasst, die sich seit vielen Jahren auf dieses Gebiet spezialisiert haben, also zu einer Zeit, als Menschen in Rußland an dessen Erforschung nicht denken durften. Detlef Brandes schrieb z.B. den Artikel über Bessarabien. Hier wurden u.a. Stellen gestrichen, die von religiösen und sozialen Konflikten und von der Rolle jüdischer Gewerbetreibender innerhalb der deutschen Kolonien sowie von der Russifizierung handeln. Die ergänzend angegebenen rumänischen Ortsbezeichnungen wurden gestrichen. Die Tendenz der Moskauer Redakteure war Glätten und Verharmlosen. Bei Übersetzungen deutsch geschriebener Artikel wurde manches verballhornt; die Autoren erhielten keine Gelegenheit, die Übersetzungen gegenzulesen und zu korrigieren. Dr. habil. Dietmar Neutatz, auch Autor einer Monographie aus dem Bereich des Lexikons, fand seinen ausgewogenen Artikel über die Deutschen Wolhyniens in einer verschlechterten Gliederung gedruckt, mit überflüssigen Ergänzungen, Lücken und Widersprüchen. Hier und in anderen Artikeln waren seine Bibliographien um Titel erweitert, die er aus qualitativen oder politischen Gründen ausgeschlossen hatte. Koautoren, die für die Entstellungen haften, hatte die russische Redaktion ihm aufgezwungen. Nicht einmal ein rechtzeitiger Protest gegen die Veränderungen seines Wolhynien-Artikels bewog den "Bearbeiter" seines Artikels zu Korrekturen. Unter dem Artikel über die Evangelisch-Lutherische Kirche steht der Name des besten Spezialisten dieses Bereichs: Gerd Stricker als einer von zwei Autoren. Ein Benutzer des Lexikons, der Stricker kennt, wundert sich über unpräzise und falsche Formulierungen. Wie kann er wissen, daß von diesem keine einzige Zeile stammt? Stricker hat dank der Wachsamkeit eines deutschen Redaktionsmitglieds zwar noch vor Drucklegung vom Mißbrauch seines Namens erfahren, dann 98 wichtige Korrekturen nach Moskau übermittelt, doch wurde wie auch sonst keine einzige beachtet!
In gleicher menschlich, wissenschaftlich und juristisch unverantwortlicher Weise wurde mit den Artikeln von A. Engel-Braunschmidt, Alfred Eisfeld und Viktor Bruhl umgegangen. Von diesen beiden stammt z.B. der gemeinsame Artikel Vossoedinenie semej (Familienzusammenführung). Er lenkt auf ein wesentliches weiteres Problem - die Wahl der Stichworte und ihre alphabetische Ordnung. Der Benutzer könnte auch unter "Spätaussiedler", "Ausreisebedingungen" o.ä. suchen. Daß die Vernichtung des Bauerntums als Kulaken unter Vyjavlenie (Entlarvung) zu finden ist, ahnt kaum jemand, ebenso wenig, dass man unter Vremennye postanovlenija (Zeitweilige Anordnungen) etwas über die Evangelische Kirche findet. Ob ein Artikel von Eisfeld über die Rußlanddeutschen im Zweiten Weltkrieg in einer deutscherseits finanzierten Ausgabe unter dem Sowjetpropagandabegriff Velikaja otecestvennaja vojna (Großer Vaterländischer Krieg) erscheinen muß, mag dahingestellt sein. Vereinbarte, fertige Artikel wie Antinemeckie kampanii (Antideutsche Kampagnen) oder der umfangreiche und aktuell besonders wichtige Avtonomistskoe dvizenie (Autonomiebewegung) wurden eindeutig aus politischen Gründen nicht gedruckt und einer über die "Diskriminierung" der Deutschen schon bei der Planung ausgeschlossen. Immerhin ließ sich der Eisfeld-Bruhl-Beitrag Deportacija (Deportation) nicht streichen.
Die zahlreichen informationsreichen Beiträge von Arkadij German, Saratov, über verschiedene "Kantone", in die die deutsche Wolgarepublik gegliedert wurde, stehen unter den Einzelbezeichnungen, doch ein Überblick über alle "Kantone" fehlt in diesem Band, der freie Seiten hätte. German hat auch über die Schicksale der Deutschen in den verschiedenen Lagern des GULAG geschrieben. Diese Artikel stehen unter dem Namen des jeweiligen KZ, ein Zentralartikel oder eine Liste fehlt, und das 1987 in London erschienene hervorragende Handbuch, Spravocnik po GULagu von Jacques Rossi, wird nicht genannt. Es gibt auch eine Reihe von Artikeln, in denen rußländische Autoren Ergebnisse langjähriger Forschungen zusammengefaßt haben, so z.B. die Beiträge von German, auch jene von Jurij Petrov über deutsche Unternehmer oder von N. V. Ostaseva, die - leider eine Ausnahme - auch die deutsch- und englischsprachige Literatur kennt, über die südrussischen Mennoniten.
Der unzureichende Blick der Redaktion auf die Nachschlagemöglichkeit
des Benutzers, die Unausgeglichenheit von Qualität, Länge und Inhalt
der Artikel, häufige Mißachtung deutscher Forschung in den zufällig
wirkenden Bibliographien, zeugen von mangelndem philologischen
Bewußtsein und könnten auf Unerfahrenheit der russischen Redakteure im
Bereich der Lexikographie schließen lassen. Erfährt man aber, daß der
Chefredakteur in der Redaktion der Bol'saja sovetskaja enciklopedija
gearbeitet hatte, wird zwar sein in Deutschland indiskutabler Umgang
mit Autoren und Texten begreiflich, nicht aber die Entscheidung, einen
beruflich so geprägten Mann für dieses sowjetkritische
Gemeinschaftswerk einzusetzen. Die Beteiligung zahlreicher schwach
oder gar nicht ausgewiesener russischer Mitarbeiter und die
Einbeziehung relativ überflüssiger Artikel dürften hingegen auf den
heute in Russland herrschenden ökonomischen Zensor zurückgehen - d.h.
auf die Unterordnung sachlicher Entscheidungen unter die Möglichkeit,
Geld zu verdienen bzw. guten Bekannten Geld zukommen zu lassen. In
einer rein russischen Publikation mag das unvermeidbar sein, wenn es
aber in einer mit deutschem Geld finanzierten Edition auf Kosten der
Leistung deutscher Wissenschaftler und des objektiven Standes der
Forschung geschieht und sich mit politischen Eingriffen in die
deutscherseits gemeinte Wiederherstellung der Wahrheit paart, dann ist
das mehr als bedauerlich. Eigentlich müßte der Geldgeber Willen und
Möglichkeit haben, im Dienste der Rußlanddeutschen,[2] die so viel Leid
ertragen mussten, und im Dienste des Ansehens der deutschen
Wissenschaft die Mängel bei den beiden nächsten Bänden wenigstens zu
verringern.
Wolfgang Kasack
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