Die vom Autor eingeschlagene Strategie der Verschlankung könnte auf
das Fassungsvermögen amerikanischer Studenten ausgerichtet sein; sie
unterminiert aber aufs Ganze gesehen die Solidität des Lehrbuchs. Um
die nicht gerade kurze Geschichte der Bibliotheken von den Tontafeln
der Assyrer bis zum Neubau der British Library in St. Pancras[2] in den
selbstgesetzten Rahmen einzupassen, muß Harris sich auf chronikartige
Überblicke beschränken, die mitunter in ein reines Auflisten von
Bestandszahlen ausarten.
Im dritten Hauptkapitel (Modern Library Development in the West, S.
131 - 297) versucht Harris, die Hauptlinien der Bibliotheksentwicklung
diesseits und jenseits des Atlantiks nachzuzeichnen. Sein Blick auf
Europa ist freilich sehr selektiv. Von Jahrhundert zu Jahrhundert
werden fast nur die Bibliotheken in Großbritannien, Frankreich,
Italien, Deutschland und Rußland näher beleuchtet. Offensichtlich sind
die älteren Textpartien nicht gründlich genug überprüft worden. Die
Vaticana wird zum Beispiel den Spezialbibliotheken zugeordnet (S.
227). Die berühmte Büchersammlung des J. J. Fugger (nicht im Register)
soll "aus Österreich" in den Besitz Herzog Albrechts V. von Bayern
gelangt sein (S. 138).[3] Die Königliche Bibliothek in Berlin ist, so
Harris, nach 1871 zur "German Imperial Library" aufgestiegen (S. 137
- 138). Die Göttinger Bibliothek soll 1837 gegründet worden sein (S.
215). Zu den Landesbibliotheken, die im Zweiten Weltkrieg zerstört
wurden, zählt Harris "Kassel, Stuttgart, Dresden and Würtemburg" (S.
223), und was er zu Der Deutschen Bibliothek zu sagen hat, sei
wörtlich zitiert: "The new national library at Marburg is also a
post-war development, and in the sense that it is a bibliographic and
reference center, it, too, is a special library" (S. 235).
Zwei Kenner der Materie, Donald G. Davis, Jr. und Hermina G. B.
Anghelescu, haben in ihren Rezensionen die Defizite der History of
libraries in the Western world schonungslos aufgedeckt.[4] Sie mußten
freilich übereinstimmend feststellen, daß auf dem Buchmarkt der
Vereinigten Staaten zur Zeit ein besseres einbändiges Lehrbuch nicht
zur Verfügung steht. Armes Amerika!
Horst Meyer
Zurück an den Bildanfang