Die Verfasser der 20 Beiträge, zumeist Bibliothekare und
Hochschullehrer, werfen sowohl einen Blick auf die historische Genese
der Sammlungen als auch auf die sich daraus ergebenden Aufgaben und
Probleme. In den beiden ersten Themenkreisen wird der Prozeß
beschrieben, aus dem sich die Gründung der Sammlungen ergab, sowie die
frühe Praxis in den diese Aufgabe oft nur zögernd annehmenden
Kommunen. Viele Bände gingen im 19. Jahrhundert durch mangelndes
Engagement der Gemeinden verloren, und große Verluste sind durch
Kriegseinwirkungen und Diebstähle zu verzeichnen.[2] Andererseits hat
dank zahlreicher privater Schenkungen ein enormer Reichtum an
Schriften den Weg in die Bibliotheken gefunden. Anhand vieler
Beispiele werden dem Leser die diversen Quellen vor Augen geführt, aus
denen die heutigen Sammlungen entstanden sind. Die städtischen
Bibliotheken mit den bedeutendsten historischen Buchbeständen sind
1931 vom Ministerium zu "bibliothèques municipales classées" ernannt
und damit aus der Menge ihrer Schwestereinrichtungen herausgehoben
worden.
Der dritte und umfangreichste Themenkreis widmet sich den aktuellen
Fragen der Bestandserhaltung, den Besonderheiten der Katalogisierung,
der Bestandspräsentation und dem Bestandszuwachs. Bei der
Bestandserfassung sahen sich die französischen Bibliotheken vor die
Aufgabe gestellt, ihr Regelwerk (Normes AFNOR) an die von der IFLA
erarbeiteten internationalen Regeln anzupassen, ein sich über zwei
Jahrzehnte erstreckender Prozeß, der zudem andere Materialien wie
Handschriften, Stiche, Karten, Photos, Noten, Exlibris, usw. einbezog.
Aber die in das Projekt investierte Arbeit zeitigt inzwischen Früchte.
Dank der Verbundkataloge nimmt man die einst kaum beachteten
Büchereien in der französischen Provinz auf nationaler Ebene wahr,
ihre Bestände werden vermehrt über den Fernleihverkehr angefordert und
bei Ausstellungsplanungen berücksichtigt. Mehr als 500 öffentliche
Bibliotheken sind seit den 90er Jahren dank der maschinenlesbaren
Erfassung ihrer Altbestandskataloge im Catalogue collectif de France
vertreten.
Ein eigenes Kapitel ist Fragen der Benutzung gewidmet. Bekanntlich
stellt jede Konsultation des schützenswerten Altbestandes eine
potentielle Gefährdung dar, so daß sich eine restriktive Zugangspraxis
durchgesetzt hat. Aber zugleich sehen sich die Bibliotheken vor die
Aufgabe gestellt, ihre Schätze nicht nur einem Fachpublikum zugänglich
zu machen, sondern in zunehmendem Umfang auch einer sich historisch
orientierenden Allgemeinheit. Das Interesse an lokal- und
regionalgeschichtlichen Themen hat merklich zugenommen, was sich in
steigenden Benutzungszahlen niederschlägt, und die Bibliotheken sind
aufgefordert, diesem Trend durch Ausstellungen und diverse
Veranstaltungen entgegenzukommen, die sich im Zusammenwirken mit
bibliophilen, genealogischen und historischen Gesellschaften gestalten
lassen. Dazu zählt auch die Aufbereitung des Buch- und Bildmaterials
für elektronische Publikationen, sei es CD-ROM oder Internet, um ein
breiteres Publikum anzusprechen. Aus diesen Aktivitäten lassen sich
publizistische Wirkungen entwickeln, die sicherlich auch potentielle
Spender erreichen. Denn angesichts leerer öffentlicher Kassen wird ein
aktives Zugehen auf die Sammler für die beste Möglichkeit gehalten,
spezielle Kollektionen übereignet zu bekommen, die jeder Bibliothek
erst ein spezifisches Profil verleihen.
Im letzten Themenkreis werden Sammlungen mit lokalem Bezug sowie
Spezialkollektionen vorgestellt und ihre Besonderheiten hervorgehoben.
Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind in Frankreich mehr als 500
Spezialbibliotheken neu entstanden. Insgesamt werden auf den Regalen
der rund 1100 Spezialbibliotheken ca. 26 Millionen bibliographische
Einheiten verwahrt, darunter in großem Umfang historisch bedeutsame
Werke. Die französischen Bibliothekare sind aufgefordert, sich dieses
wertvollen und reichhaltigen Erbes anzunehmen und es den Fachbenutzern
wie dem allgemeinen Publikum auf vielfältige Weise zugänglich zu
machen. Dazu bietet diese detailreiche Aufsatzsammlung nicht nur den
historischen Bezug, sondern zudem vielfältige Anregungen.
Gernot Gabel
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