Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus: Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 8(2000) 1/4
[ Bestand in K10plus ]
Große Medienchronik
- 00-1/4-085
-
Große Medienchronik / Hans H. Hiebel ... - München : Fink,
1999. - 1095 S. ; 24 cm. - ISBN 3-7705-3332-1 : DM 98.00
- [5882]
Seit 1994 arbeitet eine Gruppe im Institut für Germanistik der
Universität Graz an einem Großprojekt, dessen "ultimatives Ziel" es
ist, "den Einfluß mediengeschichtlicher Neuerungen und Umbrüche im
Hinblick auf relevante Gattungs-, Struktur- und Formveränderungen der
Literatur zu eruieren" (Vorbemerkung, S. 7). "Dabei konzentriert sich
das Projekt ausdrücklich auf die technische Geschichte der Medien, und
zwar gestützt auf die Annahme, daß die technische Logik der
Kommunikationssysteme sich immer schon auf die Form und Struktur
literarischer/poetischer Texturen niedergeschlagen hat.
Literatur/Poesie ist in ihren Formen und Strukturen, soweit diese ihr
Historisches ausmachen, 'sedimentierte technische Mediengeschichte'."[1]
Diese unmittelbar einleuchtende, aber in ihrer Relevanz schwer
einzuschätzende und generell, d.h. außerhalb von literarischen
Einzeltexten, kaum zu operationalisierende und methodisch zu
isolierende Grundannahme, hat Hiebel für sich 1991 entwickelt.[2] Im
Verlauf von mehreren Forschungsprojekten führte sie zur Aufarbeitung
der Geschichte der Medientechnik in drei Publikationen, deren
Hauptstück die hier zu rezensierende Große Medienchronik ist.[3] Vom
Forschungsaufwand, nicht vom Forschungsziel her, gleicht das Projekt
bis zur Veröffentlichung der Großen Medienchronik bis in einige
Details hinein dem Unternehmen von Werner Faulstich an der Universität
Lüneburg, das 1993 zur Veröffentlichung einer tabellarischen
Mediengeschichte[4] und 1994 zu einem auch als Kommentar zu lesenden
Band Grundwissen Medien gelangte.[5] Beide Projekte arbeiteten für sich
die gesamte Geschichte der Medien von den allerersten Anfängen bis zur
unmittelbaren Gegenwart auf, allerdings in unterschiedlicher Absicht:
Bei Faulstich zielte sie über das Zwischenprodukt einer allgemeinen
Medienannalistik auf eine Kulturgeschichte der Medien,[6] bei Hiebel
über das Zwischenprodukt einer Chronik der Medientechnik auf eine
projektierte Mediengeschichte der Literatur resp. auf eine "Theorie
medienlogischer Literaturinterpretation" (Kleine Medienchronik, S. 9)[7]
Betrachten wir die Große Medienchronik: Nach einem Vorwort von Hans
Helmut Hiebel zur Entstehung und Absicht der Chronik, das in Teilen
identisch ist mit dem Vorwort zur Kleinen Medienchronik, folgt die in
fünf Medienbereiche oder "Paradigmen" geteilte Chronik, die in jeweils
unterschiedlicher Zusammenarbeit von den übrigen drei Verfassern der
Chronik verantwortet wird: Schrift/Druck/Post (Karl Kogler), Optische
Medien (Herwig Walitsch, Heinz Hiebler), Akustische Medien (Hiebler),
Übertragungsmedien (Hiebler, Kogler, Walitsch) und Computer
(Walitsch); sie werden jeweils mit einer "Präambel" eingeleitet, in
der je einige Grundzüge der Entwicklung skizziert werden. In Teilen
sind diese Präambeln textgleich mit den - breiter ausgeführten
- Abschnitten des Bandes Die Medien. In der Großen Medienchronik
werden
die inhaltlichen Eintragungen zunächst durch eine Jahresangabe (bis
1996 oder 1998 reichend, gelegentlich auch in Jahreszusammenfassungen,
aber keine Tages- oder Monatsdaten) eingeleitet, danach werden sog.
Medien-Siglen (eine Auswahl aus insgesamt 24 Abkürzungen von
Medientechnologien, von bp wie Bildplatte und bt Bildtelegrafie bis za
wie Zahlzeichen) angegeben (sie sollen im Fall einer CD-ROM-Ausgabe
als Sortierhilfen nützlich werden). In der Hauptsache folgt die
Zusammenfassung oder Paraphrase (im Umfang von drei Zeilen bis zu etwa
einer halben Seite) eines Textes/Textabschnittes zu Fakten und Details
aus der technischen und organisatorischen Geschichte der Medien (hier
werden auch genaue Tagesdaten zitiert). Zum Abschluß wird die
Textquelle (oder auch mehrere) in Kurzform exakt mit Seitenangabe
notiert, nur gelegentlich fehlen diese Angaben ganz oder werden
pauschal angegeben. Im Anschluß an den Textteil folgt eine Zeittafel,
die nahezu textgleich schon in der Kleinen Medienchronik zu finden
war; sie bietet auf knappem Raum eine synchronoptische Übersicht über
wichtige Ereignisse, die zugehörige "Langinformation" ist im Textteil
zu finden. Unter dem nachgestellten Motto Ab ovo usque ad mala folgt
die Auflösung der Quellensiglen, insgesamt 226 Titel
unterschiedlichster Provenienz, aus denen die Verfasser ihre Chronik
kompiliert haben. (Die alphabetische Ordnung folgt allerdings den
Titelaufnahmen, nicht den Siglen, was in Einzelfällen zu lästigem
Suchen führt.) Schließlich folgt noch ein kombinierter, zweistufiger
Sachindex/Personenindex, der sehr detailliert ausgearbeitet erscheint
und nur im Falle hochproduktiver Wissenschaftler oder Unternehmer
(Baird, Bell, Edison, Forest, Marconi, Siemens, Zworykin) und
innovativer Firmen (Radio Corporation of America, Universum Film AG)
zu unübersichtlichen Anhäufungen von Verweisungen führt.[8]
Kernstück der Großen Medienchronik sind die Zusammenfassungen und
Paraphrasen unzähliger Details aus literarischen Sekundärquellen: Die
Quellen, aus denen Hiebel und seine Mitarbeiter ihr technisches und
organisatorisches Detailwissen schöpfen, reichen von umfangreichen,
wissenschaftlichen und populären Gesamtdarstellungen bis zu kleinen
Detailveröffentlichungen in technischen oder populären Zeitschriften,
von pauschal angegebenen Museums-Informationen bis zu firmeninternen
Kompilationen, von allgemeinen Konversations-Lexika bis zu speziellen
Fachwörterbüchern. Daß die Auswahl trotz ihres beachtlichen Umfangs
unabgeschlossen und durchaus willkürlich wirkt, liegt im Verfahren
begründet, in der schneeballartigen Kompilation von Details aus
einzelnen Hauptquellen, denen je nach Bedarf weiter nachrecherchiert
wurde und die durch neuere und aktuelle Veröffentlichungen ergänzt
worden sind. Insofern mag es gleichgültig sein, aus welcher Quelle
geschöpft wurde, wenn nur das Geschöpfte korrekt, vollzählig und von
einiger Relevanz ist. Korrektheit unterstellt einerseits die sinngemäß
richtige Auswahl und Zusammenfassung resp. Paraphrasierung eines
Textes, die vorausgesetzt werden darf, andererseits die Korrektheit
des Quellentextes selber.
Hier ist analog zur sekundären Zitierung antiker Überlieferungen
durchaus Vorsicht angebracht: Nicht weniges von dem, was überliefert
ist, gehört in das Reich der Legenden und Zuschreibungen, sollte es
bei moderneren Ereignissen und Texten anders sein? Vollzähligkeit und
Relevanz bemessen sich in Bezug auf das Forschungsziel, in unserem
Fall, die Materiallieferung für eine Theorie medienlogischer
Literaturinterpretation. Hier die Relevanz der Notierung kleinster
medientechnischer Detailfortschritte in den unterschiedlichsten Medien
in Hinblick auf ihre Auswirkungen auf die allgemeine und spezielle
Geschichte literarischer und poetischer Formen und Gattungen
beurteilen zu wollen, erscheint im Einzelfall vermessen.
Vollzähligkeit ist per se nicht zu erreichen. Wie gelingt der
Quantensprung von technischen Mediendetails zur Literaturtheorie?
Welche Schritte sind die entscheidenderen, die erste Entwicklung eines
technischen Details, seine erste apparative Anwendung und Verbreitung,
sein öffentliches Bemerkt-werden durch Medienberichterstattung und
Literatur oder erst sein flächendeckender Einsatz bis hin zur
Normierung, sofern es denn dazu überhaupt kam?
Für die Große Medienchronik ist dies kein Thema: Ihre Sammlung
technischer und organisatorischer Details wird zunächst zum
Selbstzweck und schafft ein Produkt von eigenem Wert, indem es diese
Sammlung indifferent als Materialdepot für ähnlich gelagerte oder
andere, fremde Interessen bereit hält. Die Relevanz der
Materialkompilation wäre von den anderen Zielen her neu und jeweils
anders zu beurteilen, primär bietet sich die Große Medienchronik als
Lektüre medientechnischer Fortschritte und Entwicklungen an. Diese
Lektüre kann durchaus zur längeren Versenkung in die Details führen,
da die Texte lesbar und kompetent formuliert sind (ein Effekt den die
weitaus knapperen Texte der Kleinen Medienchronik nicht bewirken
konnten). Störend wirken eher die sich gelegentlich häufenden
Belegverweise auf immer dieselben Quellen, aber sie können immerhin
zur Lektüre des ausgewerteten Buches verleiten. Ungleich
informationsreicher als das oben zum Vergleich angeführte Werk von
Faulstich/Rückert ist die Große Medienchronik allemal (auch schon in
der Fassung der Kleinen Medienchronik), da hier Fakten referiert
werden und nicht wie damals nur in Überschriften angekündigt wurden,
zu denen die Ausführungen dann leider fehlten. Als Quellen-Kompilation
zur kursorischen Information für Laien und laienhaft Interessierte ist
die Große Medienchronik sicher von guten Diensten. Da der Begleitband
Die Medien ausführlichere Hilfen zur Einschätzung und zur Gliederung
der Details anbietet, sollte er auch als Lesehilfe oder Kommentar
bereitstehen und entsprechend genutzt werden, - als methodischer
Einstieg in eine literaturtheoretische Diskussion über die Relevanz
medientechnischer Präfigurationen kann er von seiner Anlage her jedoch
nicht dienen. Das Hauptwerk, eine Mediengeschichte der Literatur
basierend auf einer Theorie medienlogischer Literaturinterpretation,
steht noch aus.
Wilbert Ubbens
- [1]
- Web-Seite des Projekts Literatur und Medien, Institut für
Germanistik, Karl-Franzens-Universität Graz, URL
- http://wwwgewi.kfunigraz.ac.at/deuph/projekte/litmed.html
(zurück)
- [2]
- MEDIA : Tabelle zur Geschichte der Medien-Technik / Hans H. Hiebel.
// In: Medien und Maschinen : Literatur im technischen Zeitalter /
hrsg. von Theo Elm und Hans H. Hiebel. - 1. Aufl. - Freiburg :
Rombach, 1991, S. 186 - 224.
(zurück)
- [3]
- Vgl. als Kurzausgabe: Kleine Medienchronik : von den ersten
Schriftzeichen zum Mikrochip / Heinz Hiebler ; Karl Kogler ; Herwig
Walitsch. Hrsg. von Hans H. Hiebel. - München : Beck, 1997. - 274 S.
- (Beck'sche Reihe ; 1206.) sowie als nur aus verlegerischen Gründen
getrennt publizierter Kommentar: Die Medien : Logik, Leistung,
Geschichte / von Hans H. Hiebel ... - München : Fink, 1998. - 273 S.
- (UTB für Wissenschaft : Uni-Taschenbücher ; 2029).
(zurück)
- [4]
- Mediengeschichte in tabellarischem Überblick : von den Anfängen bis
heute / Werner Faulstich und Corinna Rückert. - Bardowick :
Wissenschaftler-Verlag Werner Faulstich, 1993. - Bd. 1 - 2 ; 21 cm.
- (IfAM-Arbeitsberichte ; 8). - ISBN 3-89153-023-4 : DM 140.00.
- (Wissenschaftler-Verlag Werner Faulstich, Wittorfer Str. 35, 21357
Bardowick) [1973]. - Rez.: IFB 94-2-255.
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- [5]
- Grundwissen Medien / Werner Faulstich (Hrsg.). - München : Fink,
1994. - 392 S. ; 19 cm. - (UTB für Wissenschaft : Uni-Taschenbücher ;
1773). - ISBN 3-8252-1773-6 (UTB) - ISBN 3-7705-2918-9 (Fink) : DM
34.80 [2356]. - Rez.: IFB 94-3/4-418. - Zuletzt: Grundwissen Medien /
Werner Faulstich (Hrsg.). - 3., vollst. überarb. und stark erw. Aufl.
- München : Fink, 1998. - 464 S. ; 24 cm. - (UTB für Wissenschaft :
Große Reihe ; 8169). - ISBN 3-8252-8169-8 (UTB) - ISBN 3-7705-3356-9
(Fink) : DM 58.00 [5189]. - Rez.: IFB 99-1/4-125.
(zurück)
- [6]
- Die Geschichte der Medien / [Werner Faulstich]. - Göttingen :
Vandenhoeck und Rupprecht. - 24 cm.
- Bd. 1. Das Medium als Kult : von den Anfängen bis zur Spätantike (8.
Jahrhundert) / Werner Faulstich. - 1997. - 327 S. : Ill. - ISBN
3-525-20785-9 : DM 78.00.
- Bd. 2. Medien und Öffentlichkeit im Mittelalter : 800 - 1400 / Werner
Faulstich. - 1996. - 298 S. : Ill. - ISBN 3-525-20786-7 : DM 68.00.
- Bd. 3. Medien zwischen Herrschaft und Revolte : die Medienkultur der
frühen Neuzeit (1400 - 1700) / Werner Faulstich. - 1998. - 341 S. :
Ill. - ISBN 3-525-20787-5 : DM 84.00. - Das Werk ist auf 6 Bände
konzipiert.
(zurück)
- [7]
- Hiebel und seine Mitarbeiter haben in verstreut publizierten
Aufsätzen an literarischen Einzelbeispielen die Relevanz ihrer These
erprobt. Dazu grundsätzlich: Medienorientierte Literaturinterpretation
/ Heinz Hiebler. // In: Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie :
Ansätze - Personen - Grundbegriffe / hrsg. von Ansgar Nünning.
- Stuttgart ; Weimar : Metzler, 1998, S. 351 - 353. - ISBN
3-476-01524-6
: DM 49.80 [5165] (Rez.: IFB 99-1/4-129). - Literaturhinweise zu
Interpretationen von Hofmannsthal, Karl Kraus, Arno Schmidt finden
sich u.a. in der oben genannten Projektdokumentation der Grazer
Arbeitsgruppe.
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- [8]
- Allerdings ist den Herausgebern oder dem Verlag ein böses
Mißgeschick unterlaufen, das nur durch die Nachlieferung eines
Korrigierten Sach- und Personenindex zu beheben war: Im Buch sind alle
Verweisungen schlichtweg falsch, da sie sich offenbar auf die
Manuskriptvorlage, nicht auf das gedruckte Buch beziehen.
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