Der Mainzer Publizistikprofessor Jürgen Wilke hat wegen der in keiner Weise irgendwie abgeschlossenen, sondern offenen, äußerst facettenreichen und extrem unübersichtlichen Geschichte der Massenmedien in der Bundesrepublik den Band nicht allein oder als Leiter einer von ihm dominierten Arbeitsgruppe verfaßt. Statt des aussichtslosen Versuchs, eine umfassende Monographie zu schreiben, hat er für den von ihm konzipierten Band 24 renommierte Mitarbeiter gewonnen, deren Namensliste sich wie ein Wer-ist-wer der etablierten deutschen Medienwissenschaft liest, soweit sie mit historischen oder Überblicksdarstellungen befaßt gewesen ist, (nur für das juristische Kapitel wurden zwei bisher im Bereich Medienrecht nicht hervorgetretene Autoren verpflichtet). Ihre Namen und ihre Zuordnung zu den jeweiligen Kapiteln garantieren oder repräsentieren zumindest die sachgerechte Bearbeitung der übernommenen Aufträge. Dankbar registriert man die Offenheit Wilkes, auch Stimmen außerhalb der "Mainzer Schule" um Mitarbeit gebeten zu haben, auch wenn klar ist, daß Vertreter konträrer oder abweichender Lehrmeinungen und Positionen nicht engagiert worden sind. Daß Wilke selber mehrere Beiträge verfaßt hat, mag man ihm als Herausgeber zugestehen, daß aber beide Beiträge von Hans Mathias Kepplinger (s.u.) wegen ihrer inhaltlichen Enge auffallen, hätte der Herausgeber durch geschicktere Personenwahl vermeiden können. Im übrigen scheinen sich alle Mitarbeiter der Besonderheit dieses Bandes bewußt: Die Bereitschaft so vieler renommierter Wissenschaftler, an diesem Band mitzuarbeiten, erfüllt und verstärkt zugleich die Erwartungen.
Wilke gliedert den Band in zehn Abschnitte, die sich den Bereichen
Mediensystem, Aussagen, Rezeption, Rahmenbedingungen und
Wirkungsgeschichte zuordnen lassen, und eröffnet selbst den Band mit
einem allgemeinen Überblick und dem Versuch einer Phasengliederung.
Das zum Verständnis der bundesrepublikanischen Mediengeschichte
unabdingbar notwendige Kapitel Vorgeschichte bestreiten Kurt Koszyk
mit einem Beitrag zur Presse unter alliierter Besatzung und Arnulf
Kutsch zum Rundfunk dieser Zeit. Es bleibt eine offene Frage, ob zum
besseren Verständnis nicht auch ein Abschnitt über Presse und Rundfunk
der Weimarer Republik und des "Dritten Reiches" wünschenswert gewesen
wäre, um die politisch gewollten Neuanfänge und Ablösungen im
Mediensystem noch stärker zu betonen. Es folgt ein Kapitel
Strukturwandel des Mediensystems mit Rahmenartikeln zur Tagespresse
von Walter J. Schütz, zur Zeitschriftenpresse von Hans Bohrmann, zum
öffentlich-rechtlichen Rundfunk von Ansgar Diller und zum
kommerziellen Rundfunk von Rüdiger Steinmetz. Das Medium Film blendet
Wilke insgesamt aus, was man wegen der Besonderheiten seines
Distributionssystems und seiner vorwiegenden Unterhaltungsfunktion
akzeptieren mag, aber für die Geschichte des Fernsehens Lücken
aufreißt.[1]
Unter der gemeinsamen Überschrift Angebote, Inhalte, Programme werden
Übersichten zur Zeitungsberichterstattung von Hans Mathias Kepplinger
(anhand lediglich der Deutschlandberichterstattung der drei
Prestige-Zeitungen Frankfurter Allgemeine, Süddeutsche Zeitung und Die
Welt) zur Programmgeschichte des Hörfunks von Horst O. Halefeldt und
zu der des Fernsehens von Peter Ludes angeboten und durch Aufsätze zu
spezielleren Zielgruppenmedien ergänzt (zu Leitmedien insgesamt von
Jürgen Wilke, zur alternativen Presse von Christian Holz-Bacha und zur
kirchlich-konfessionellen Presse von Michael Schmolke, der sich
allerdings i.w. mit katholischer Presse befaßt). Hier vermißt man
durchaus weitere "Leitmedien" wie politische Zeitschriften (nur
"kulturpolitische" werden von Wilke erwähnt), Vereins- und
Verbandspresse, die gesamte Fachpresse der Berufszweige, die
wissenschaftlichen Zeitschriften u.ä.m.; noch stärker vermißt man
zuvor im Beitrag von Kepplinger zumindest den Ansatz einer
Problematisierung der thematisch engen Beschränkung.
Im folgenden Kapitel Rezeption, Publikum zeichnen Rüder Schulz und
Marie Luise Kiefer die Entwicklungslinien der Nutzung von Zeitungen
und Zeitschriften resp. von Hörfunk und Fernsehen unter Einschluß
ihrer Forschungsgeschichte nach.
Im sechsten Kapitel Rahmenbedingungen und Bedingungsfaktoren folgen
Beiträge von Hans-Jürgen Papier und Johannes Möller zum Presse- und
Rundfunkrecht, von Jürgen Wilke zu Nachrichtenagenturen, von Wolfgang
Donsbach zu Journalismus und journalistischem Berufsverständnis, von
Siegfried J. Schmidt zur Werbung und von Michael Kunczik zur
Öffentlichkeitsarbeit. Hier vermißt man durchaus die notwendige
Betonung der zunehmenden Ökonomisierung des Mediensystems, die z.B. im
Beitrag zur Werbung zugunsten ästhetischer und inhaltlicher Argumente
geradezu ausgeblendet erscheint und die auch im Abschnitt zur
Öffentlichkeitsarbeit zu wenig thematisiert wird.
Als nächstes Kapitel werden ein - dort jede historische Entwicklung
verneinender - Beitrag zu den Massenmedien in der DDR von Günter
Holzweissig und zu den Massenmedien im Prozeß der deutschen
Vereinigung von Beate Schneider eingefügt, die man inhaltlich gern
noch um ein Kapitel zu den Folgen der europäischen Einigungspolitik
für den Mediensektor ergänzt sähe.
Es folgen unter der Überschrift Funktionswandel, Wirkungsgeschichte
einige Spezialbetrachtungen zu politischen Themen: Axel Schildt widmet
sich den Massenmedien im Umbruch der fünfziger Jahre, Jürgen Wilke
geht der Frage der Vergangenheitsbewältigung in den Medien nach, Bernd
Sösemann beschäftigt sich mit der 68er Bewegung und den Massenmedien
(mit ihnen allerdings nur auf den abschließenden zwei Seiten seines
Beitrags), Hans Mathias Kepplinger befaßt sich mit beispielhaften
publizistischen Konflikten, die in den Medien kontrovers ausgetragen
wurden, und zieht aus ihnen sehr allgemeine Folgerungen, Jochen
Hoffmann und Ulrich Sarcinelli zeichnen wieder Zeitlinien der
politischen Wirkung der Medien und Jürgen Wilke wagt zum Abschluß
einen Blick auf Zukunft Multimedia und die Folgen für und im
hergebrachten Mediensystem. Hier könnte man sich eine noch stärkere
Periodisierung wünschen, die alle fünf vergangenen Jahrzehnte
berücksichtigt hätte oder auf "Leitkonflikte" der Jahrzehnte
eingegangen wäre.
Es folgt ein Anhang mit nützlichen, meist bis 1998 informierenden
Tabellen und Schaubildern, die aus anderen Veröffentlichungen
übernommen oder zusammengestellt wurden, und mit einer Zeittafel, die
mit dem 24.11.1944, dem Verbot aller publizistischer Tätigkeiten in
Deutschland, einsetzt und bis zum 30.8.1998, dem Beginn des
Sendebetriebs des Südwestrundfunks SWR, reicht und die recht
unterschiedliche Datenmengen und -inhalte für die einzelnen Jahre
aufführt. Der Anhang wird vervollständigt durch ein
Literaturverzeichnis und ein Register, die beide Wünsche offenlassen:
Das Literaturverzeichnis enthält in alphabetischer Folge ca. 350 Titel
mit nur knappen bibliographischen Daten; auf eine inhaltliche
Gliederung wurde unverständlicherweise verzichtet. Dies Manko kann
auch nicht durch die weiterführenden Literaturhinweise in den
"Anmerkungen" der einzelnen Beiträge ausgeglichen werden. Das Register
beschränkt sich leider auf Personen; für die aufwendigere, trotz der
systematischen Gliederung des Bandes eben wegen der sich ergänzenden
Beiträge inhaltlich so wünschenswerten und notwendigen Erstellung
eines Sachregisters hat sich bedauerlicherweise kein Bearbeiter
gefunden. In den Band eingefügt werden insgesamt fünf Bildteile
(Presse, Hörfunk, Fernsehen I und II, Werbung), die mit zusammen 228
halbseitigen Schwarzweiß-Bildern eher unzureichend visuell
informieren, - die unabhängig von diesen Bildteilen gelegentlich in
den Text eingestellten Schwarzweiß-Bilder wirken dort weit
informativer.
So bleibt nach der Lektüre des Bandes eine Mischung aus Enttäuschung
und Dankbarkeit: Dankbarkeit, daß die Gelegenheit des 50jährigen
Jubiläums der Bundesrepublik für die Erarbeitung und Verbreitung einer
Mediengeschichte der BRD genutzt und durch die Mitarbeit so
prominenter Wissenschaftler auch eindrucksvoll ausgefüllt worden ist.
Enttäuschung aber darüber, daß nicht noch mehr Mühe und Aufwand
eingesetzt worden sind, um zumindest einige offensichtliche Lücken und
Auslassungen zu schließen. Dem Band ist vor der hoffentlich bald
notwendigen Neuauflage in diesem Sinne eine ergänzende Überabeitung zu
wünschen.
Wilbert Ubbens
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