Der Katalog zeichnet sich durch seine große Sorgfalt und Ausführlichkeit aus; die beiden als Einheit zu betrachtenden Teile stellen in der Tat mehr als einen bloßen Katalog dar und können mit ihrem beträchtlichen Umfang direkt für die Hegelforschung verwendet werden. Teil 1 ist der eigentliche Katalog der Handschriften, Autographen und Handexemplare Hegels (von Ziesche erstellt); Teil 2 besteht aus einer analytischen Untersuchung der von Hegel verwendeten Papiere (hier hatte Ziesche die Mithilfe des Papierexperten Dierk Schnitger). Mit diesem Werk kann Ziesche das Ergebnis ihrer langjährigen Erfahrung mit dem Hegel-Nachlaß vorlegen, arbeitet sie doch bereits seit 32 Jahren in der Handschriftenabteilung der SBB. Dieser Band hat übrigens den 1996 verliehenen Preis der Bayerischen Akademie der Wissenschaften erhalten.
Die Einträge des Katalogs beschreiben ausführlich jede Handschrift, z.T. unter Wiedergabe der Texte von interessanten Stellen. Diese Textstellen wurden lesbarer gemacht, indem die von Hegel abgekürzten Wörter in Klammern vervollständigt sind. Eine detaillierte physische Beschreibung des verwendeten Papiers und der Tinte ist eingeschlossen, und alle auffallenden schriftlichen und nicht-schriftlichen Merkmale sind ebenfalls erwähnt. Ein wichtiger Zusatz ist die sorgfältige Beschreibung derjenigen Stellen, an denen Hegel Wörter oder Passagen gestrichen bzw. geändert hat. Dazu kommen zahlreiche Literaturangaben von Veröffentlichungen, die auf den hier beschriebenen Handschriften beruhen oder diese behandeln.
Der 2. Teil besteht aus einem Katalog der Wasserzeichen, die auf den von Hegel verwendeten Papieren gefunden worden sind und bietet gleichfalls einen reichen Schatz an analytischen Untersuchungen für die Hegelforschung. Der Band beginnt mit einer 30-seitigen Untersuchung von Papieren, Wasserzeichen, Schreibgeräten und Schriften und auf den Katalog der Wasserzeichen folgen noch 211 Elektronenradiographien. Damit gelingt es den beiden Autoren, eine Chronologie der verschiedenen Lebensabschnitte Hegels festzulegen, die als eigenständiger Beitrag zur Hegelforschung weit über das hinausgeht, was man billigerweise von einem Nachlaßverzeichnis erwarten kann.
Der Katalog folgt dem großzügigen und benutzerfreundlichen Format der
anderen Bände in der Reihe Kataloge der Handschriftenabteilung /
Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz:[2] Ausreichend große und
unterschiedliche Schriften helfen, die Textteile leicht zu erkennen
und zu lesen. Das größere Format des Bandes macht es möglich, auch
kleinere Details in den Abbildungen der Wasserzeichen zu erkennen. Die
Anlage von Teil 1 mit dem Katalog folgt der allgemeinen Ordnung des
Hegel-Nachlasses in der SBB. Die handschriftlichen Blätter sind in
sechzehn Kästen aufbewahrt, und sie bilden die jeweiligen Teile des
Katalogs. Jedes Blatt bzw. jede Gruppierung von Blättern ist
sorgfältig mit Nummern und den ersten Zeilen eines Textes
gekennzeichnet. Wenn möglich, so sind die Papiere und die darauf
enthaltenen Textteile datiert. In vielen Fällen sind historische
Besonderheiten der Handschriften vermerkt, ebenso deren Provenienz.
Diese detaillierte Beschreibung macht es möglich, eine physische und
inhaltliche Identifizierung einer Handschrift vorzunehmen, ohne die
Handschrift selbst sehen zu müssen. Der Katalog bietet darüber hinaus
dem Wissenschaftler Literaturhinweise, wo man benötigte Handschriften
gedruckt oder beschrieben finden kann. Zusätzlich zu dem Nachlaßteil
gibt es einen Anhang mit nicht weniger als 44 Teilen. Diese
beschreiben andere Hegeliana, die sich nur zum Teil im Besitz der SBB
befinden: wichtige Handexemplare von Hegel, die bedeutende
Autographensammlung (seit dem Krieg wird diese Sammlung in der
Biblioteka Jagiellonska in Kraków aufbewahrt), und relevante hegelsche
Handschriften aus anderen Sammlungen der SBB.
Beide Teile besitzen eigene Register: Teil 2 hat ein Register der
Wasserzeichen, während Teil 1 ein Verzeichnis der Initien sowie ein
Sach- und Personenregister bietet. Letzteres ist leider nur begrenzt
nützlich: mehrere wichtige Themen, die im Textteil erwähnt sind,
fehlen im Register. Da die Inhaltsangaben ohne Beschreibung und nur
nach Nachlaß- bzw. Anhangnummern versehen sind, vermißt man auch ein
Register von größeren Themenbereichen. Da die Nachlaßkästen zum Teil
nach groben Themen geordnet sind, wäre es zudem hilfreich gewesen, die
Inhaltsangabe mit einer narrativen Beschreibung der Nachlaßnummern zu
ergänzen. Hier stoßen wir auf eine Schwäche dieses ansonsten
ausgezeichneten Katalogs, denn gesuchte Einzelbegriffe oder Themen
lassen sich über den Erschließungsapparat nur bedingt finden. Da
Wissenschaftler die Vorteile von elektronischen Datenbanken in
wachsendem Maß schätzen lernen, wird es immer schwieriger, sie durch
solche gedruckten Kataloge zufriedenzustellen. Die Möglichkeit, in
diesen Katalogen mit Hilfe Boolescher Operatoren zu recherchieren,
würde ihren Wert für die Wissenschaft wesentlich erhöhen, weshalb eine
CD-ROM-Version ein ausgesprochenes Desiderat darstellt.
Ein wesentlicher Aspekt eines handschriftlichen Nachlasses bezieht
sich auf den Hintergrund und die Vorgeschichte seines Entstehens und
Fortbestandes. Mit Eva Ziesche besitzt der Hegel-Nachlaß der SBB eine
intime Kennerin. Obwohl nicht ohne Lücken, besitzen wir ein relativ
gutes Bild davon, was mit den Handschriften nach Hegels Tod geschehen
ist. Hegel selbst war ein eifriger Aufbewahrer seiner eigenen
Schriften und anderer wichtiger Lebensurkunden (wie an den vielen
Exponaten, die sogar noch aus seiner Schulzeit stammen, im Hegel-Haus
in Stuttgart zu sehen ist). Nach seinem Tod fiel der Nachlaß an seine
Frau Marie, und sein Schüler Friedrich Förster übernahm die Verwaltung
der Sammlung. Sie wurde zuerst für die Herausgabe der Werke-Ausgabe
des Vereins der Freunde des Verewigten verwendet, die mit dem Band
Briefe von und an Hegel 1877 von Hegels Sohn Karl abgeschlossen war.
Die Söhne Immanuel und Karl haben dann 1889 beschlossen, den Nachlaß
an die Königliche Bibliothek in Berlin abzugeben, nachdem sie die
Sammlung geordnet und mit Anmerkungen versehen hatten. Leider haben
sie zuvor - um vermeintlichem Mißbrauch zu wehren - eine beträchtliche
Zahl von Handschriften vernichtet. Ludwig Stern, Orientalist an der
Königlichen Bibliothek, hat das erste Inventar des Nachlasses
vorbereitet. Er hat das alphanumerische Ordnungssystem von Karl
Rosenkranz (Herausgeber der ersten Gesammelten Werke) und Karl Hegel
weiterverwendet. Später wurden die Handschriften sorgfältig gebunden
und 1904 war die Archivierungsarbeit beendet. Trotz der sorgfältigen
Aufbewahrung der Handschriften durch Hegel und seine Familie war es
nicht zu vermeiden, daß viele Stücke in den Besitz anderer gerieten.
Aus diesem Grund hat die Staatsbibliothek im 20. Jahrhundert aktiv
weitere Hegel-Nachlässe erworben. Die wichtigste Bereicherung der
Sammlung kam 1935 aus dem Besitz von Frieda Sixt von Arnim, einer
Enkelin von Immanuel Hegel. Für die noch nicht abgeschlossene Bochumer
Ausgabe im Meiner-Verlag, Hamburg, waren die Handschriften 1958 aus
ihren Einbänden herausgenommen und in die gegenwärtige Ordnung in
Kästen zusammengeordnet worden. Die ursprüngliche Anordnung von
Rosenkranz, Karl Hegel und Stern ist jedoch größtenteils noch heute
erhalten.
Ziesches Katalog der Hegel-Bestände der SBB ist also in vieler
Hinsicht eine Widerspiegelung der Vorgeschichte der Sammlung. Es ist
nicht schwer, zu erkennen, daß der Sammlung durch den beträchtlichen
Umfang und die starke Kontinuität des Nachlasses, anfangs durch Hegel
selbst bis hin zur Aufbewahrung an der Königlichen Bibliothek, eine
nicht zu unterschätzende Bedeutung für die Hegelforschung beigemessen
werden muß. Seit Diltheys Wiederentdeckung des Nachlasses um die
Jahrhundertwende diente diese Sammlung als wesentliche Quelle für die
Erforschung von Hegels geistiger und intellektueller Entwicklung. Als
Widerspiegelung dieser Geschichte kann der Katalog als Tor zu diesem
Reichtum angesehen werden.
Roger Brisson
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