Die Relation der Seitenzahl zur Zahl der verzeichneten Dokumente gibt bereits einen Hinweis darauf, daß Krummel weit über die bibliographische Beschreibung der Texte hinausgeht. Die Art der Verzeichnung ist durch umfangreiche Annotationen und Abstracts, in denen auch Querverbindungen zwischen den einzelnen Texten hergestellt werden, sowie durch ausführliche Angaben zu den Autoren der Rezeptionszeugnisse charakterisiert. Dies sei an einem Beispiel erläutert. Zu den Protagonisten Krummels, die in allen drei Bänden seiner Bibliographie Erwähnung finden, gehört auch Richard Nikolaus Graf von Coudenhove-Kalergi, der Begründer der Pan-Europa-Bewegung. Insofern sich Coudenhove-Kalergi in seinen Schriften explizit auf Nietzsche beruft, würde man die Verzeichnung dieser Schriften in einer Bibliographie zur Wirkungsgeschichte Nietzsches erwarten. Krummel übertrifft diese Erwartung bei weitem. In Bd. 1 exzerpiert er in einer Fußnote, die sich über eineinhalb Seiten erstreckt, eine autobiographische Schrift von Rudolf Pannwitz aus dem Jahr 1921, in dem dieser u.a. auf den Nietzsche-Bezug der Gedanken Coudenhove-Kalergis eingeht. In Bd. 2 findet sich - eingestreut in die bibliographische Berichterstattung zum Jahr 1910 und ohne eigene Dokumentnummer - ein Zitat aus der Autobiographie Coudenhove-Kalergis, in dem dieser seine Nietzsche-Lektüre im zarten Alter von 15 Jahren erwähnt. In der wiederum sehr ausführlichen Fußnote finden sich neben Angaben zur Vita des Begründers der Pan-Europa-Bewegung auch weitere Zitate aus Werken Coudenhove-Kalergis, in denen Nietzsche erwähnt wird. In Bd. 3 schließlich finden sich drei Erwähnungen des Grafen, die zeigen, wie weit der Horizont ist, den Krummel mit seinem "Schrifttumsverzeichnis" abschreitet. Die erste Stelle findet sich in Krummels Referat von Edgar Julius Jungs Pamphlet Die Herrschaft der Minderwertigen. Von Krummel erfährt der Leser, daß sich bei Jung "die strenge Ablehnung von Coudenhove-Kalergis 'Pan-Europa-Bewegung' und des faschistischen Anarchismus" finde (S. 252). Auf S. 292 wird der Leser informiert, daß Richard Kötzschke in einer Broschüre von 1928 Coudenhove-Kalergi zu den "Anhängern" Nietzsches zählte. In allen diesen Nennungen von Namen und Werken werden ideenpolitische Positionen angedeutet, deren Aufarbeitung Gegenstand eines lesenswerten Aufsatzes sein könnte.
Gerade durch die Art der Verzeichnung läßt das "Schrifttumsverzeichnis" Krummels die Grenzen einer herkömmlichen Bibliographie weit hinter sich. Der Bibliograph (fast möchte man vom "Autor" sprechen) hat sich bemüht, im Zusammentragen der faktenhaften Bruchstücke zugleich eine Geschichte der Wirkung Nietzsches in Deutschland zu schreiben. Diesem Bemühen liegt eine in der historistischen Tradition der Geisteswissenschaften begründete Verwechslung zwischen den res gestae und der narratio rerum gestarum zugrunde. Die Sammlung der Fakten ist auf der Ebene der "geschehenen Geschichte" angesiedelt. Um zur "erzählten Geschichte" zu werden, muß die Verknappung einerseits und die Interpretation andererseits hinzutreten. Auch vor diesem Hintergrund wird deutlich, daß das "Werk" Krummels wirklich die Arbeit eines Bibliographen und nicht die eines Historiographen ist. Als Materialverzeichnis ist das große Panoptikum der Nietzsche-Lob- und Schimpflieder, das Krummel entrollt, für jeden, der sich mit der Nietzsche-Rezeption in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und darüber hinaus mit der Kulturgeschichte dieser Epoche beschäftigt, unverzichtbar. Als Bibliographie kann sie nichts anderes sein als ein - wenn auch gigantischer - Steinbruch, der von der historischen Forschung benutzt wird, um Geschichte neu zu deuten.
Auch unter bibliographischen Kriterien bleibt im Verzeichnis Krummels
die eine oder andere Frage offen. Entscheidend für den Gebrauchswert
einer Bibliographie ist (neben der Vollständigkeit und Genauigkeit der
Verzeichnung) die Erschließung der verzeichneten Dokumente. Hier gibt
es mit der systematischen Gliederung und der registermäßigen
Erschließung zwei Möglichkeiten, die einen schnellen Zugriff auf die
gesuchten bibliographischen Informationen ermöglichen. Die erste
Möglichkeit wird von Krummel, der seine Daten in den drei vorliegenden
Bänden in einer chronologischen Reihenfolge anbietet, nicht genutzt.
Und leider beschränkt sich auch die registermäßige Erschließung auf
das Allernötigste. Allen drei Bänden ist ein zweigeteiltes
Namenverzeichnis beigefügt. Der erste Teil verzeichnet die Literatur
in jedem Band unter dem Gesichtspunkt "... und Nietzsche", der zweite
Teil unter dem Gesichtspunkt "Nietzsche und ...".[2] Der erste Teil des
Registers hat damit die Funktion eines Autorenverzeichnisses, der
zweite Teil weist Literatur nach, die Nietzsches Beziehungen zu
einzelnen Denkern und Zeitgenossen zum Gegenstand hat. Die
Erläuterungen zu den Registern sind unzureichend. Ein wenig ratlos
steht der (Erst-)Benutzer vor dem Ziffernsalat, den ihm insbesondere
der erste Registerteil anbietet. Erst durch ein
Trial-und-Error-Verfahren findet man heraus, daß die 'normalen'
Ziffern auf Seitenzahlen hinweisen, auf denen die entsprechenden
Personen als behandelte Personen vorkommen. Die in Klammern
aufgeführten Ziffern, die sich nicht auf die Seitenzahlen, sondern auf
die Dokumentnummern in der Bibliographie beziehen, führen den Benutzer
zu den Dokumenten, die die betreffende Person zum Autor haben.
Bedauerlicherweise ist man nicht auf die Idee gekommen, die separaten
Register der drei Bände zusammenzuführen und dem Benutzer so eine
Suche über den gesamten "Datenbestand" zu ermöglichen. Allein unter
Nietzsche, Therese Elisabeth Alexandra findet man in den drei Bänden
ca. 750 Nachweise.[3] Davon beziehen sich knapp 80 auf eigene Texte der
Philosophen-Schwester.
Sehr hilfreich ist die Liste der Kürzel, unter denen die Zeitschriften
aufgeführt werden. Gerne würde man etwas darüber erfahren, ob eine
Aufnahme in diese Liste bedeutet, daß der Bibliograph die betreffende
Zeitschrift vollständig ausgewertet hat oder ob es sich bei den
nachgewiesenen Aufsätzen möglicherweise nur um Zufallsfunde handelt.
Mit solchen Auskünften ist Krummel leider allzu geizig. Aufgrund der
Dichtigkeit der Abdeckung ist davon auszugehen, daß die meisten
Zeitungen und Zeitschriften tatsächlich vollständig ausgewertet
wurden. Auch hier sind bereits die Zahlen aussagekräftig: Allein für
den Zeitraum 1867 - 1900 verzeichnet die Liste 415 Titel.
Erwähnt sei schließlich, daß Krummel in seiner Bibliographie auch die
Primärliteratur berücksichtigt. Hier wurde durch die
(Spezial-)Bibliographie von William H. Schaberg aus dem Jahr 1995 ein
neuer Maßstab gesetzt.[4] Eigene Akzente setzt Krummel hier beim
Nachweis von Erstveröffentlichungen. Mit Hilfe eines Verzeichnisses
der Fundstellen zur Veröffentlichungsgeschichte der Werke, Briefe,
usw. können die Nachweise der Primärliteratur vergleichsweise leicht
aus den Datenbergen hervorgezogen werden. Dies läßt sich am Beispiel
Ecce homo demonstrieren. In Bd. 1 findet sich auf S. 194 der
aufschlußreiche Hinweis, daß erste Auszüge aus dieser Selbstbiographie
des Philosophen bereits 1890 von Michael Georg Conrad in der
Zeitschrift Die Gesellschaft veröffentlicht wurden. Elisabeth
Förster-Nietzsche bediente sich des Manuskripts ab 1897 u.a. in ihrer
Biographie des Bruders (S. 424) sowie in Zeitschriften-Aufsätzen (S.
477 und 546).
Trotz aller Eigenwilligkeiten ist und bleibt das
"Schrifttumsverzeichnis" Krummels auf unabsehbare Zeit ein
unverzichtbares Instrument der Nietzsche-Forschung und auch der
allgemeinen Kulturgeschichtsschreibung für die erste Hälfte des 20.
Jahrhunderts. Seit dem Erscheinen des ersten Bandes im Jahr 1974 hat
sie sich einen festen Platz im allgemeinen Informationsbestand jeder
größeren wissenschaftlichen Bibliothek erobert. Ihre Bedeutung hat sie
durch Bd. 3 sowie durch die Umarbeitung der ersten beiden Bände
eindrücklich unterstrichen.
Frank Simon-Ritz
Zurück an den Bildanfang