Die systematische Struktur des Lexikons ist in der Einleitung mit sechs Themenkreisen umschrieben, die eine anthropologisch zentrierte Religionstheorie voraussetzen - man braucht nicht gleich an die Dialektische Theologie zurückzudenken, um die Nicht-Selbstverständlichkeit einer solchen Konzeption deutlich zu machen. Es gibt eine ganze Reihe von Artikeln in diesem Lexikon, die nach eher traditioneller wissenschaftlicher Methodik verfertigt, auf der Höhe der Forschung, durchaus lesbar und von vertrauenserweckender Objektivität sind, z.B. Aufklärung, Islam u.a.m. Daneben gibt es aber problematische Seiten. Das gilt für manche im Lexikon verwendete Kategorien, beginnend bei sprachlichen Wendungen wie "Das hochaufgeladene Verständnis des katholischen Priesteramtes", die m.E. nur suggestiv, nicht klärend oder informierend sind. "In der Theologie bemühen sich Profis um die Übersetzung der alten, heiligen Texte in die Lebenswelt der Zuhörer", ist als Kernaussage über Exegese zu dürftig. Das Artikelchen Aberglaube könnte für Weiteres stehen: "Insbesondere Pfarrer und (andere) Intellektuelle rügen damit die Frömmigkeit des 'ungebildeten Volkes'" - was ja sein mag, aber es gibt über "Aberglaube" auch sehr subtile philosophische Reflexion, die dem Begriff der "superstito" denkerische Schärfe abgewinnt. Es wird sich zudem nicht leugnen lassen, daß es durchaus höchst schädliche gesellschaftliche Phänomene gibt, die ein Nachdenken auch über eventuell mißbrauchte Kategorien notwendig macht (ich denke in dem Kontext etwa an jüngste Massen[selbst-]tötungen bei Sekten). Bei der Verwendung anderer Begriffe (Magie etwa) ließen sich ähnliche Fragen stellen und die Reihe wäre leicht fortzusetzen. Das Problem besteht letztlich darin, daß die Kriteriologie dieses Lexikons unklar ist - anders etwa als in der Religionsphänomenologie Heilers oder gar bei König. Mit dem allgemeinen Hinweis auf das 'Instrumentarium der Kultur-, Sozial- und Humanwissenschaften' ist das noch nicht geklärt, da eben doch auch theologische Aussagen referiert und beurteilt werden, - selbst wenn sie dann u.U. als "rein theologisch und unbrauchbar" klassifiziert werden, wie es K. Rahner passiert. Es ist wohl nicht zufällig, daß der Islam-Artikel viel objektiver ist, als die Darstellung mancher christlich-theologischer Zusammenhänge.
Doch nochmals zurück zu Bild und Medien: Die Bildlegenden sind vielfach zu schnoddrig gemacht ("Ideologisch motivierte Gewalt, wie sie einst die 'alleinseligmachende' Kirche ausübte und heute moderne Nationalisten praktizieren ..."). Manche Dinge sind schlicht auf Effekt hin abgebildet: die virtuelle Mumie oder die gegen die religiösen Regeln von 60 % der Weltbevölkerung verstoßende Mahlzeit - was nicht heißt, daß nicht mancher Referendar dankbar für solche pädagogischen Aufhänger vor Lehrproben sein mag. Spätestens bei der genannten Mumie fragt man sich, warum das Lexikon nicht den Schritt zur Medienwelt selbst getan hat und etwa als Medienkombination publiziert worden ist. Das schöne Ganzleinen der Ausgabe freut zwar den Bibliophilen, steht aber doch quer zum Inhalt des Werks.
Auch einige technisch-redaktionelle Dinge sollten im Falle einer Neubearbeitung korrigiert werden: Die biblischen Bücher sollten noch exakter nach den Loccumer Richtlinien zitiert werden; S. XVII "Das Hohelied", S. 287 das "Lied der Lieder" dürfte nicht für jeden von vornherein identisch sein; Meister Eckhart unter "M" einzuordenen ist seltsam. Die Literaturangaben sind manchmal etwas zu willkürlich (Küstenmachers Comic zum Abendmahl ist genannt; wirkliche Grundliteratur fehlt dagegen); warum ist bei Bürgertum Adorno "Quelle", Cassirer "Sekundärliteratur"? Doch das sind eher Randfragen.
Zusammenfassend würde ich das Metzler-Lexikon Religion als einen im deutschen Sprachraum bislang singulären Versuch ansehen, das Phänomen Religion in einer Weise zu fassen, die dessen Wirkungen im "medialen" Raum des öffentlichen Bewußtseins der westlichen Welt in großer Breite darzustellen sucht. Es beschreitet dabei Neuland, verläßt den klassischen Kanon, und macht sich dadurch auch angreifbar, da manches methodisch zweifelhaft bleibt, anderes zu auswahlhaft ist. Es wäre besser gewesen, den klassisch-lexikalischen Anschein noch stärker zu vermeiden, solch zweifelhafte Kürzestartikel wie den zitierten Aberglauben nebst der Exegese überhaupt zu streichen und vielleicht auch die philosophischen Informationen (z.B. Existentialismus) eher wegzulassen (auch wo sie sachlich überzeugen) und sich dafür noch stärker auf das mediale Phänomen Religion einzulassen. Warum ist z.B. der Artikel Freimaurer so historisch und bringt so wenig über deren mediale Inszenierung - bis zur Zauberflöte (daß dieser Bezug im Artikel Ägypten versteckt ist, hilft nur dem "Gesamtleser")? Wegfallen könnten m.E. auch die meisten Personenartikel (Augustinus, W. Benjamin [!], Buddha, Dalai Lama, Franziskus von Assisi, Meister Eckhart, Freud, Gandhi, Goethe, Hildegard von Bingen, Jeanne d'Arc, Jesus, Khomeini, Luther, Mohammed, Nietzsche sind bislang enthalten), die einfach zu auswahlhaft sind und besser wohl auf die großen Religionsstifter beschränkt worden wären.
Das Lexikon wird man als Ergänzung und Seitenstück zu den traditioneller aufgemachten Nachschlagewerken sicher mit großem Interesse benutzen können; es ist durchaus vieles daran "spannend" - ein typisches Epitheton der Einleitung -, aber die Grundinformation ist in vielen Fällen - von Abendmahl über Erotik bis Katholizismus etc. zu eingeschränkt, zu wenig erläutert und oft mit zu starren Urteilen versehen, die nicht ausgewiesen werden. So muß man sich bei Benutzung dieses Werkes sinnvollerweise meist zusätzlich woandersher ergänzende Informationen holen. Verblüfft hat mich der Satz der Einleitung, der abweist, daß sich "das Lexikon irgendeines 'Zeitgeistes' bemüßigt fühlte" - darin liegt doch auf weite Strecken gerade seine Besonderheit und gerade hierfür lohnt es sich, dieses Werk heranzuziehen! Es packt eine neue Aufgabe an, und daher kann man auch aus seinen problematischen Seiten und Fehlern lernen.