Über die Auswahl der Beispiele (Sprachpolitik und Sprachlenkung für die Sprachwissenschaft; Chrétiens Yvain für die Mediävistik, Petrarcas Canzoniere für die italienische, Prousts Recherche für die französische Literaturwissenschaft, Kultur und Literatur des Maghreb für die Kulturwissenschaft und Cervantes' Don Quijote für die Intermedialität) mag man streiten. Zwar hat es sich eingebürgert, bei letztlich immanenten Interpretationen bereits von Sprach- und Literaturwissenschaft zu sprechen, aber in Wirklichkeit bewegen wir uns im Bereich der Sprach- und Literaturgeschichte. Mit Sprach- und Literaturwissenschaft wird der Leser, vielleicht um ihn nicht abzuschrecken, von Gier gar nicht erst in Berührung gebracht, zu allgemein und damit fachunspezifisch ist seine Vorgehensweise bei den Beispielen. Das läßt sich am deutlichsten an Kap. 3 zeigen, wo die Repräsentativität der Sprachwissenschaft mit Erörterungen der Sprachnormierung und -lenkung, zumeist in Frankreich, demonstriert werden soll. Hier geht es um Akademien und ihre Aufgaben, um die normbildende Wirkung von ihnen erstellter Wörterbücher, um den Umgang mit Amerikanismen und Fremwörtern schlechthin, alles Fragen, die ein historisch geschulter Literaturhistoriker in seinen Vorlesungen mit behandelt und die sogar noch zu einer guten Allgemeinbildung zählen. Der Leser erfährt also nichts von Saussure, Chomsky und Coseriu, von Strukturalismus, Valenz, Transformation oder System. Und auch die der Literatur gewidmeten Kapitel sind hermeneutisch harmlos, sparen die Methodendiskussion aus. Dies wird zwar mit einem Bekenntnis zum Methodenpluralismus (S. 11) entschuldigt, dessen Wendung ins Beliebige jedoch bedenklich stimmt: "Wie dem auch sei - 'Forschung' bedeutet nichts anderes als die kontinuierliche Vermehrung der Summe (romanistischen) Wissens, und die Tätigkeit der Lehrenden wie auch der Lernenden an der Universität ist Teil dieses Prozesses, sofern eigene oder fremde Hypothesen kritisch überprüft, bei Bedarf modifiziert oder notfalls verworfen werden. Der Grad der Spezialisierung ist dabei von nachrangiger Bedeutung; letztlich kommt es auch nicht darauf an, ob man zu einem völlig neuen Ergebnis gelangt oder die Resultate früherer Untersuchungen bestätigt. Jeder, der in einem Seminarreferat oder einer Examensarbeit z.B. ein Modell zur Beschreibung der Erzählperspektive auf einen unter diesem Aspekt noch nicht untersuchten Roman anwendet, lernt forschend oder forscht lernend" (S.11 -12). Ein solches Urteil öffnet einem möglichen Dilettantismus die Tür, so als ob in den Geisteswissenschaften alle Methoden gleichberechtigt wären und bereits der Anfänger ein Forscher wäre. Das tolle, lege genügt nun keinesfalls, denn auch hier gibt es die Stufen des Lehrlings, des Gesellen und des Meisters, auch hier gibt es eine Didaktik (dieser Begriff kommt in dem vorliegenden Band bezeichnenderweise nicht vor) und natürlich für unterschiedliche Texte unterschiedlich geeignete Methoden. Das Fehlen der höchst vitalen lateinamerikanischen Literatur, Sprache und Kultur könnte man in der vorliegenden Einführung ebenfalls bedauern. Aber, wie gesagt, das sind Gewichtungs- und Geschmacksfragen. Insgesamt besticht das Konzept der Gesamtanlage, das Albert Gier hier entwickelt hat, mag man auch bei der Durchführung andere Akzente setzen. Schade, daß der Liste der Romanischen Seminare Deutschlands nicht noch die fünf Österreichs hinzugefügt wurden, nicht aus Einvernahmegelüsten, versteht sich, sondern weil Österreich (und in gewissem Maße auch die deutschsprachige Schweiz) das gleiche komparatistische und weit gespannte Romanistikkonzept hat wie Deutschland, das nicht nur eine deutsche 'Erfindung', sondern inzwischen leider auch ein deutscher 'Sonderweg' geworden ist. Auch ein Namensregister wäre hilfreich gewesen.
Die Bibliographie ist knapp, sinnvoll und aktuell. Für einen
neugierigen Laien ist sie allerdings schon fast zu speziell, und wenn
sie schon relativ umfassend ist, dann hätte man ruhig auch
Bibliographien, Zeitschriften, Wörterbücher und zweisprachige Ausgaben
mit aufnehmen können, wie überhaupt ein Anfänger, der noch mit
sprachlichen Hürden zu kämpfen hat, gerade durch Übersetzungen zum
Gegenstand hingeführt werden könnte. Alles in allem jedoch ein
informativer Band, der helfen kann, den noch Unentschlossenen zum
Romanistikstudium zu motivieren.[1]
Frank-Rutger Hausmann
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