Weder im In- noch im Ausland sind unmittelbar vergleichbare
Unternehmungen auszumachen: Das Repertorium fontium,[2] das Lexikon des
Mittelalters[3] oder der Mittelalterband des Dictionnaire des lettres
françaises[4] stellen weder thematisch, noch von der Anlage, noch
quantitativ wirkliche Entsprechungen dar; am ehesten wäre an die
Clavis des auteurs latins du moyen âge[5] oder das Compendium auctorum
latinorum medii aevi[6] zu denken: Clavis wie Compendium stehen in ihrem
Erscheinen jedoch erst am Anfang und beschränken sich auf die
lateinischen Autoren, die Clavis widmet sich zudem ausschließlich dem
ersten Jahrtausend. Das Compendium bietet keine Angaben über den
Inhalt der jeweiligen Werke und berücksichtigt (zumindest bisher)
keine anonymen Texte. Daher bietet sich vor allem ein vergleichender
Blick auf die von Wolfgang Stammler begonnene und von Karl Langosch
fortgesetzte erste Auflage des Verfasserlexikons[7] an.
In den zahlreichen Besprechungen des Verfasserlexikons bzw. einzelner
seiner Faszikel wurden von Germanisten, Historikern, Latinisten und
Rezensenten anderer Fächer neben einzelnen Ergänzungen und
Berichtigungen zumeist die folgenden Themen angesprochen:
Untersuchungszeitraum, alphabetische Ordnung, Sammelartikel,
Berücksichtigung lateinischer Werke, Ausschluß von altfranzösischer
Literatur und die Unterschiede gegenüber dem VL1. Gelobt wurde das
durchweg hohe Niveau der Beiträge (in überraschend gut lesbarer Form);
gelobt wurde, daß Forschungskontroversen und Probleme nicht
ausgeklammert werden, gelobt wurde die Berücksichtigung ungedruckter
Quellen und die Würdigung von Autoren, auf deren Namen viele der
Lexikonbenutzer dort zum ersten Mal gestoßen sind. Dem kann sich Rez.
nur vorbehaltlos anschließen.
Die gelegentlich geäußerte Kritik an der vergleichsweise flexibel
angewandten Zeitgrenze zwischen Mittelalter und früher Neuzeit (die
Regierung Maximilians I., 1493 - 1519) muß hier nicht erneut
vorgetragen werden. Vereinzelte Schwierigkeiten bei der alphabetischen
Ordnung, insbesondere bei Autorennamen mit geographischen Zusätzen
(bzw. ebensolchen Namensbestandteilen), aber auch bei Werktiteln sind
zwar nicht zu leugnen, doch äußert sich dazu Herausgeber Kurt Ruh im
Vorwort zu Bd. 1, S. VII ausführlich, vor allem aber beseitigen die
zahlreichen Verweisungen die meisten Schwierigkeiten dieser Art. Auch
in die notwendigerweise subjektive Kritik an der Gewichtung (d.h. am
Umfang) einzelner Beiträge braucht nicht eingestimmt zu werden.
Dagegen ist die Frage, ob übergreifende Sammelartikel zu Themen wie
Paradiesspiele, Zaubersprüche und -segen, Fabeln u.ä. verwendet werden
sollen, ebenso wie die nach der Auflösung solcher Einträge, die z.T.
im VL1 enthalten waren,[8] durchaus diskussionswürdig. Wer z.B. nach
Angaben zu Fabeln des deutschen Mittelalters sucht, findet zunächst
noch keinen Eintrag und auch keine Verweisungen vor, obwohl natürlich
einige Beispiele von Fabeln als einzelne Lemmata vorkommen. Häufig
wird im VL2 auf solche Sammelartikel verzichtet; wenn stattdessen
Verweisungen eingetragen sind, dürfte das in der Regel ausreichen.
Konkrete Beispiele zu den betreffenden Textsorten finden sich dann
unter den Autoren oder ihren Titeln, auf die verwiesen wird. In
Fällen, wo beide Hilfestellungen fehlen,[9] kann man nur auf
ausführliche Register im angekündigten Ergänzungsband hoffen.
Ein großer Fortschritt gegenüber dem VL1 und ein Vorzug gegenüber
anderen Repertorien dieser Art besteht in der ausgewogenen
Berücksichtigung sowohl von volkssprachlicher als auch von
lateinischer Literatur. Allerdings kann das Ausklammern von
altfranzösischen Werken, die ebenso wie die klassischen lateinischen
Texte auf "die deutsche Literatur des Mittelalters" gewirkt haben, nur
mit pragmatischen Argumenten begründet werden. Von der Sache her
leuchtet es keinem Mediävisten ein, daß Cicero berücksichtigt,
Chrétien de Troyes aber ausgelassen wurde. Dabei sind die
rezeptionsgeschichtlichen Artikel zu antiken Autoren und Werken
(beispielsweise Franz Josef Worstbrocks ausführlicher Vergil-Artikel
in Bd. 10, Sp. 247 - 284, der u.a. besonders umfangreiche und
nützliche Literaturangaben bietet) ebenso zu begrüßen wie die
zahlreichen neuen Beiträge über die mittellateinische Literatur.
Manche Textsorten, die in den letzten Jahren in verschiedenen
mediävistischen Disziplinen vermehrt untersucht wurden, wie etwa die
mittelalterliche Visionsliteratur, finden nun eine angemessene
Behandlung: zusätzlich zur Visio Pauli und der Visio Philiberti, die
schon in Bd. 4 des VL1 enthalten waren, sind allein in Bd. 10 des VL2
neun weitere Artikel (und zwölf Verweisungen) zu Werken der
lateinischen und volkssprachlichen Visionsliteratur berücksichtigt.[10]
Zu Recht werden im VL2 zentrale Kodizes als
überlieferungsgeschichtliche Individualzeugnisse behandelt, wie etwa
in Bd. 2, Sp. 196 - 199 die Donaueschinger Liederhandschrift oder in
Bd. 10, Sp. 809 - 817 die Weingartner Liederhandschrift.
Perspektivenwechsel und neue Erkenntnisse gegenüber dem
Forschungsstand zur Abfassungszeit des VL1 spiegeln sich mehr oder
weniger deutlich in allen Artikeln des zehnten Bandes. Zwar können
auch hier die herausgegriffenen Beispiele nur willkürlich sein, doch
sei die Behandlung der Stichwörter Wilhelm von Hirsau und Ulrich von
Zatzikoven stellvertretend genannt: Hier werden die Constitutiones
Hirsaugienses des gelehrten Reformabtes in Worstbrocks Artikel endlich
angemessen berücksichtigt,[11] nachdem sie Bernhard Bischoff in seinem
entsprechenden Beitrag zu Bd. 4 des VL1 noch als "nicht der Literatur
zuzuzählen" abgehakt hatte.[12] Isolde Neugarts Artikel über den Dichter
des mittelhochdeutschen Lanzeletromans zeichnet nicht nur der darin
referierte Zuwachs an neuen Erkenntnissen (und Hypothesen) aus; vor
allem räumt sie auf zurückhaltende Weise mit der nicht immer
sachgerechten Kritik an Ulrichs Werk auf, indem sie seine sprachlichen
Mittel als "durchaus auf der Höhe der Zeit um 1200"[13] charakterisiert
(im VL1 waren noch Attribute wie "zurückgeblieben" und "gering"
verwendet, "Mängel und Widersprüche" beklagt und der Text insgesamt
als "bedenkenlose Kompilation" bezeichnet worden).[14] Auch im
anzuzeigenden Band mag sich der Benutzer gelegentlich an
Kleinigkeiten[15] stören; manche Detailinformation oder Literaturangabe
mag fehlen, außerdem steht noch der eine oder andere Artikel aus (z.B.
Wilhelm von Coches oder der Cambridger Augensegen). Die meisten dieser
Lücken können jedoch mit dem geplanten Nachtragsband geschlossen
werden und fallen daher nicht ins Gewicht. Deshalb und noch in anderer
Hinsicht kommt dem angekündigten Nachtragsband entscheidende Bedeutung
für das Gesamtwerk zu: Neben den zu ergänzenden Einträgen sollte er
vor allem ausführliche Register enthalten. Gerade die großen Stärken
desVL2 kämen dann erst wirklich zum Tragen: Z.B. macht die
ausführliche Berücksichtigung handschriftlichen Materials erst dann
wirklich Sinn, wenn die erwähnten Kodizes durch ein
Handschriftenregister erschlossen werden; aufgelöste Sammelartikel
könnten platzsparend und benutzerfreundlich in Form von
Registereinträgen zusammen mit bisher versäumten Verweisungen in ein
Sachregister einfließen - von einem Register der Orts- und
Personennamen ohne eigenes Lemma ganz abgesehen.
Und noch ein weiterer Wunsch sei erlaubt: Wie bei ähnlichen Werken
sollte auch nach Abschluß dieses großartigen Lexikons eine
erschwingliche Studienausgabe nicht ausbleiben. Spätestens dann dürfte
das für Germanisten wie Latinisten und Romanisten, für Historiker wie
Volkskundler und Theologen gleichermaßen unentbehrliche
Nachschlagewerk in keiner wissenschaftlichen Bibliothek und keiner
Privatbibliothek mehr fehlen.
Johannes Mangei
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