Der Auswahl liegt - auch aus Rücksicht auf den Umfang - ein sehr enger
Literaturbegriff zugrunde, so daß Philosophen und Essayisten auch dann
nicht aufgenommen sind, wenn sie allein ihrer Sprache wegen zugleich
Literaten sind. Man findet also nicht Hannah Arendt, nicht Ernst
Bloch, den Expressionisten unter den Utopisten, auch nicht Jacob
Bernays (1824 - 1881), Autor einer Aphoristik, die "in ihrem eigenen
Rang erst noch zu entdecken ist".[1] Leider ist auch dieses Lexikon
trotz der hohen Qualität der meisten Artikel offensichtlich durch eine
von Vertriebsterminen diktierte Hektik der Produktion beeinträchtigt
- eine Bobachtung, die man an den Nachschlagewerken aus dem Haus
Metzler
seit der Holtzbrinck-Ära des öfteren machen kann. Mit Blick auf die
jüngsten Debakel in den Häusern Fischer und Rowohlt weiß man nicht
mehr so recht, ob man dergleichen noch kritisieren oder lieber dankbar
sein sollte, daß der zur Zeit durch den Holtzbrinck-Kontinent tobende
Taifun McKinsey in der Provinz Metzler noch keine Vernichtungsspur
gezogen hat.
Aber sei's drum. Bei der Kennerschaft des Herausgebers verwundern die
folgenden Mängel doch: Der als Dichter früh verstummte Diplomat
Leopold von Andrian - 1895 mit dem Garten der Erkenntnis zu frühem und
kurzem Ruhm gelangt, Mitarbeiter an Stefan Georges Blättern für die
Kunst und befreundet mit Hermann Bahr, Arthur Schnitzler, Hugo von
Hofmannsthal und anderen Autoren des Jungen Wien, 1918 für kurze Zeit
Generalintendant des Hoftheaters - wurde wegen seiner jüdischen
Herkunft im Wiener Außenministerium allgemein "der schöne Semit"
genannt - und kommt nicht vor. Jüdisches Herkommen ist allenthalben in
der Lyrik des immer wieder - zuletzt auch in der Deutschen
Biographischen Enzyklopädie (recensoris culpa!) - sträflich
übersehenen Dichters und langjährigen Leiters der Bibliothek des
Marbacher Literaturarchivs Ludwig Greve gegenwärtig: "So leicht ihre
Tränen springen, / die Augen sind älter, Judenaugen", steht z.B. in
seinem Gedicht Schwestern.[2] Carl Zuckmayer, für dessen Selbstbild die
jüdische Herkunft seiner Mutter keine Bedeutung hatte und der in
seinen Dramen wiederholt Juden auftreten läßt, ohne daß darin eine
explizite Stellungnahme zum Judentum gelegen hätte, wird mit einem
Artikel bedacht, nicht jedoch Hofmannsthal, der mit dem Selbsthaß der
Konvertiten seit der Jahrhundertwende die Abkunft von einem jüdischen
Großvater vor sich selbst verdrängte und in der Öffentlichkeit
systematisch verleugnete, ja sich mit Willy Haas, dem Begründer der
Literarischen Welt, aufs heftigste überwarf, als dieser das ganze Werk
des österreichischen Dichters einmal aus dem Ahasver-Mythos heraus
deutete.
Während man dankbar die Erinnerung an Camill Hoffmann begrüßt, stutzt
man über die Lücke in der Alphabetfolge, wo Martin Beradt (1881
- 1949) seinen Platz hätte haben müssen, Rechtsanwalt und Romancier in
Berlin, der 1939 im letzten Moment den nationalsozialistischen
Häschern entkam und die Flucht nach London und weiter nach New York
antreten konnte. Damals waren von ihm u.a. bereits folgende Romane
erschienen: Go (1909), Eheleute (1910), Das Kind (1911), Leidenschaft
und List (1928); dazu die Novellensammlung Die Verfolgten (1919) und
- das von Martin Buber herausgegebene Buch Der Richter (1909). Nur
wenige Titel sind nach dem Zweiten Weltkrieg neu aufgelegt worden;
zuerst 1965 postum ist auch sein wohl bedeutendster Roman Die Straße
der kleinen Ewigkeit herausgekommen, der vom jüdischen Leben im Ghetto
des Berliner Scheunenviertels der zwanziger Jahre handelt. (Eine
Neuausgabe in der Anderen Bibliothek des Verlags Eichborn ist für den
Herbst 2000 angekündigt.)
Die Qualität der knappen bibliographischen Hinweise auf Textausgaben
und Forschungsliteratur ist sehr uneinheitlich. Während zuweilen noch
Titel mit dem Erscheinungsjahr 1999 verzeichnet sind, scheint die
Forschung zu Carl Sternheim seit Ende der siebziger Jahre
stillzustehen, als gäbe es nicht die vorzügliche Monographie zum
Bürgerlichen Heldenleben von Eckehard Czucka aus dem Jahre 1982 oder
das Sternheim-Heft der Zeitschrift Text + Kritik (1985). Bei Stefan
Zweig wird zwar die von Knut Beck betreute Werkausgabe angeführt,
nicht jedoch die von ihm zusammen mit Jeffrey B. Berlin besorgte
mustergültige und nicht nur für diesen Autor ergiebige Briefausgabe
(von deren vier geplanten Bänden zwei erschienen sind, der dritte im
Herbst 2000 herauskommen wird). Aus der Sekundärliteratur zu Zweig
wird zwar aus dem Jahre 1999 noch ein Aufsätzchen angeführt, nicht
jedoch die ein Jahr zuvor erschienene Monographie Umwege auf dem Wege
zu mir selbst von Gabriella Rovagnati (Bonn, 1998), die u.a. Zweigs
Einfluß auf die jüdische Dichterin Ilse Aichinger offenlegt. Zu Jakob
Wassermann sind die älteren Arbeiten von Dierk Rodewald, dem besten
Kenner, angeführt, nicht jedoch die ihm 1998 anhand der Akten
publizierte endlich gelungene "Aufklärung" des berühmten
Kriminalfalles Hau, zu dem Wassermanns bis heute bekanntestes Werk,
Der Fall Maurizius, in der Literaturgeschichte immer in eine falsche
Beziehung gesetzt worden ist.
Hans-Albrecht Koch
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