Bekanntlich verfolgt der Reclam-Verlag in seinem literarischen Programm seit längerem die Politik, die neuen Medien zur Leseförderung einzusetzen. Warum auch nicht, wenn schon keiner mehr liest, warum soll man dann nicht wenigstens den Text von Goethes Werther aus dem Munde eines professionellen Sprechers hören? Weniger erfreulich schon, daß manches Beiwerk auf den CD-ROM-Produkten durch Text-Export-Funktionen eins zu eins seinen Weg in die Seminararbeiten findet - gleich mehrfach "unverdaut", weil nämlich nicht gründlich gelesen, nicht exzerpiert, paraphrasiert etc., sondern einfach als Textblock bloß kopiert.
Solche Vorbehalte gelten naturgemäß nicht für die elektronischen
Varianten eines Nachschlagewerks, da nur sie die Möglichkeit
mehrdimensionaler Recherchen bieten. Aber doch: es handelt sich um
einen Vorzug, den man erst dann richtig schätzt, wenn die zu
durchsuchende Textmenge sehr umfangreich ist. Für ein vielbändiges
Kritisches Lexikon der Gegenwartsliteratur (KLG) stellt eine
CD-ROM-Version[2] einen weit größeren Zugewinn an Information dar als
für ein kleines handliches Lexikon wie das Meidsche Sachwörterbuch. Es
hätte der CD-ROM-Variante hier nicht unbedingt bedurft. Wer
Nachschlagewerke nicht nur zur punktuellen und eiligen Recherche
"benutzt",[3] sondern in ihnen liest - sich auf der Suche nach einer
Sache zum Finden einer anderen verlocken läßt -, für den bleibt das
gedruckte Buch ohnehin allemal die bevorzugte Ausgabeform, weil es das
großräumige Stöbern erlaubt. Aus zum Studium Berechtigten solcherart
stöbernde Leser zu machen, wäre ein grundlegender Beitrag zur
allerorts proklamierten Reform des Studiums. Alles und Jedes in
PC-gängiger Technik anzubieten, nur weil die "Kids" nun einmal den
halben Tag vor einem Bildschirm hocken, entspringt jener
Hyperdidaktik, die jeden dort abholen möchte, wo er gerade steht,
sitzt oder liegt.
Fazit: Man kann gegen die CD-ROM - zu deren Nutzung der Käufer den
mitgelieferten Acrobat-Reader in der Version 4.0 installieren muß; den
kann man ja auch sonst gebrauchen, etwa um sich Videos am Bildschirm
anzuschauen, wenn's einem beim Sachwörterbuch einmal langweilig werden
sollte - nichts einwenden, schon gar nicht, daß sie schlechter als das
Lexikon sei, höchstens eben dies eine: daß sie ein vorzüglich
gelungenes Buch, das ihr zugrundeliegt, allen gegenteiligen
verlegerischen Beteuerungen zum Trotz womöglich doch verdrängen
könnte, wenn nicht aus der Verkaufsstatistik, so doch aus dem
Bewußtsein potentieller Leser. Den gedruckten Meid ersetzt sie aber
nicht, denn viele Vorzüge, deren sich das Werk zu Recht rühmt,
erschließen sich nur dem blätternden Leser, nicht dem Rechercheur,
etwa die Berücksichtigung der mittel- und neulateinischen Literatur
als Bestandteile der deutschen Literaturgeschichte, die
Wechselbeziehungen, Einflüsse und Rezeptionsvorgänge, wie sie z.B.
unter den Stichwörtern Antikerezeption, Petrarkismus usw. dargestellt
werden.
Hans-Albrecht Koch
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