Mit einer Geschichte im herkömmlichen Sinne des Wortes hat auch der
siebte der auf zwölf Bände angelegten Sozialgeschichte der deutschen
Literatur des Hanser-Verlags[2] nichts gemeinsam, obwohl die zeitlichen
Konturen des Buches kaum drei Jahrzehnte umspannen und sich auf drei
vermeintlich klar umrissene Strömungen beziehen: Naturalismus, Fin de
siècle, Expressionismus 1890 - 1918. Denn trotz der scheinbar strikten
Einteilung des Bandes in drei sukzessive Sektionen sind die Plätze der
vierzig Aufsätze nicht selten austauschbar: es handelt sich also um
einen Sammelband zu verschiedenen Themen der literarischen Produktion
in der Epoche zwischen der Geburt der Moderne und dem katastrophalen
Ende des Ersten Weltkriegs, aber eben um keine deutlich profilierte
Sozialgeschichte der Literatur jener Zeit.
Der Beitrag von Harro Segeberg z.B., der von Film und Tele-Medien als
technischen Konkurrenten der Literatur handelt, oder derjenige von
Walter Fähnders zu Anarchismus und Literatur, die dem Teil Fin de
siècle zugewiesen sind, hätten ihren Ort genauso gut in der Rubrik
Expressionismus finden können. Die Merkmale, die Armin A. Wallas als
typisch für die Expressionistische Novellistik und Kurzprosa
deklariert - Ambivalenz und Dynamik, Wahnsinn, Krankheit, Außenseiter
und Schwebende Identitäten (wie der Autor die ersten drei der vier
Abschnitte betitelt, in die sein Aufsatz gegliedert ist) -,
charakterisieren ohne weiteres auch viele Erzählwerke von
Impressionismus und Dekadenzliteratur; umgekehrt ist Die
Nietzsche-Rezeption (John McCarthy) für das Fin de siècle nicht
weniger von Belang als für die Expressionisten (es genügt, auf den
entsprechenden Rückblick Gottfried Benns zu verweisen).
Das Resultat ist, daß verschiedene Beiträge (im übrigen nicht selten
reinen Dejà-vu-Charakters, wie etwa der Artikel von Wolfgang Bunzel
über Kaffeehaus und Literatur im Wien der Jahrhundertwende) ähnliche
oder gar gleiche Informationen vermitteln, sich überschneiden und
wiederholen, aber auch dieselben Lücken offenlassen. Schade, weil
unter den qualitativ sehr unterschiedlichen Essays auch solche sind,
die neue Forschungsperspektiven auftun könnten: so der Beitrag
Hansgeorg Schmidt-Bergmanns, welcher der Wechselwirkung von
italienischem Futurismus und deutschem Expressionismus nachgeht;
derjenige von Hermann Korte zur Autobiographik des Expressionismus,
der die Fragwürdigkeit von Briefen und Tagebücher als Vermittlern
psychischer Authentizität hervorhebt, oder noch derjenigen Günter
Häntzschels, der den Anteil der "modernen" Frauen an der Rückgewinnung
eines hohen Niveaus in der Gattung Lyrik betont - nach einer Phase
auffallender Trivialisierung im ausgehenden 19. Jahrhundert.
Die Anmerkungen stehen getrennt von den Texten auf ca. 100 Seiten in
einem Anhang, der außerdem eine ca. 50 Seiten lange, nicht gerade
aktuelle und ärgerlicherweise völlig ungegliederte, nämlich nur
alphabetisch geordnete Auswahlbibliographie und ein Register der
Personennamen und Zeitschriftentitel enthält.
Aus der Agglomeration der verschiedenen "bunten Steine" gewinnt der
Leser dieses Bandes nicht ein klar überschaubares Mosaik, sondern ein
verschwommenes, wenn nicht gar verwirrendes Bild. Labyrinthe haben
sicher ihren Reiz; eine Geschichte der Literatur sollte aber zu einer
minimalen Systematik verhelfen, sie sollte ein Führer sein, und zwar
nicht zu immer neuen Irr- und Seitenwegen, sondern zu den Hauptwegen.
Gabriella Rovagnati
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