Wegen des überraschenden Umfangs der Materialien ist der zweite Band in zwei Halbbände aufgeteilt, deren stattlicher erster auf über 500 Seiten die Literatur der frühen Habsburger Zeit zwischen 1273 und 1358 behandelt: eine nur kurze Zeitspanne, an deren Darstellung sich der territorialhistorische Ansatz erneut als eine besonders glückliche Wahl bestätigt. Erweist sich doch die Literatur der behandelten Zeitspanne in besonderem Maße als ein Spiegel allgemeiner Entwicklungen der Epoche, die politisch durch die Konsolidierung der Herzogtümer Österreich, Steiermark und Kärnten und der Grafschaft Tirol gekennzeichnet ist: etwa im Übergang immer weiterer Herrschaftsrechte des grundbesitzenden Landadels an den Landesherren einschließlich der Schirmvogtschaften über Kirchen und Klöster und in der dazu parallel verlaufenden Aufwertung der Landesfürstenhöfe, in der Ausbildung der sogenannten Rentengrundherrschaft und im Aufblühen der städtischen Wirtschaft - positiven Veränderungen, deren modernisierende Wirkungen allerdings durch Hungersnöte, Pestepidemien und den Geburtenrückgang retardiert wurden.
Wiederum, wie schon im ersten Band, steht der eigentlichen Literaturgeschichte eine Skizze des Bildungswesens voran, das in der hier in Rede stehenden Epoche bereits eine deutliche Verschiebung zugunsten weltlicher Inhalte und laikaler Trägerschaft aufweist, wenn auch alles in allem die geistlichen Institutionen noch überwiegen - freilich ist auch diese Aussage mit der Unsicherheit behaftet, ob die erhaltenen Quellen die Proportionen richtig erkennen lassen, weil "die geistlichen Gemeinschaften die alten Zeugnisse ihrer Bildungseinrichtungen und -materialien noch am besten bewahrt haben."
Die vier Kapitel des Hauptteils beziehen sich jeweils auf die Literatur in einem der oben genannten drei Herzogtümer bzw. der Grafschaft Tirol. Indem Knapp eine Vielzahl von Autoren hier zum erstenmal überhaupt - oft ausschließlich anhand der Manuskriptüberlieferung - einem literarhistorischen Kontext einfügt, mutet das Werk über weite Strecken wie eine Erkundungsfahrt in unbekannte Gegenden an - der seltene Glücksfall, daß Literaturgeschichtsschreibung nicht lediglich Altvertrautes wieder einmal umwendet, sondern tatsächlich völlig neue Erkenntnisse mitteilt: Das gilt etwa für die Abschnitte über den sogenannten Österreichischen Bibelübersetzer, der eine kommentierte Bibel in deutscher Prosa zu schreiben beabsichtigte und in der Forschung der frühen Bibelübertragungen in die Volkssprache noch keine angemessene Berücksichtigung gefunden hat - Knapp würdigt ihn auf zwanzig Seiten -, den Polyhistor Engelbert von Admont, mit dessen Brief an Ulrich von Wien sich ein einzigartiges bildungsgeschichtliches Zeugnis - etwa mit dem Bericht über den Besuch der Vorlesungen an der Domschule zu Prag - erhalten hat, oder zahlreiche Theologen wie Nikolaus von Heiligenkreuz, Rudolf von Stams, die Prediger Greculus und Sibote, schließlich für die Lyriker Christian von Lilienfeld und Konrad von Hainburg u.v.a.m.
Wie bereits der erste Band enthält auch dieser Teil einen Ausblick auf
das hebräische Schrifttum. Mit der kurzen - wenn auch notgedrungen aus
zweiter Hand schöpfenden - Würdigung der jüdischen Literatur, bei der
sich Knapp auf die Studien von Shlomo Spitzer[2] stützt, wird die ganze
Breite mittelalterlicher Literatur sichtbar.
Ein Profil der Epoche beschließt das Werk, das eine vorzügliche
Bibliographie von 30 Seiten und ein Bildteil mit 49 Abbildungen
abrunden. Ohne Übertreibung kann man die beiden bislang von Knapp
vorgelegten Teile der Geschichte der Literatur in Österreich als eine
Leistung der Literaturgeschichtsschreibung bezeichnen, die
ihresgleichen nicht hat: Überall ist mit Händen zu greifen, welche
Tiefe die Literaturgeschichte des Spätmittelalters dadurch gewinnt,
daß lateinische und deutsche Literatur in gleicher Weise
berücksichtigt werden: So schlägt die scheinbare Verengung der
regionalistischen Darstellung in eine bisher nicht dagewesene
Erweiterung des Horizontes unserer Kenntnisse um.
Hans-Albrecht Koch
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