Das Unternehmen geht auf eine Anregung von Paul Raabe zurück, der im Zusammenhang mit den von ihm besorgten Supplementbänden zu der Abteilung Briefe in der Weimarer Goethe-Ausgabe diese Bibliographie ausdrücklich als Anschluß an die letztmalig 1950 erfolgte Berichterstattung über die Goethe-Literatur in Goedekes berühmtem Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung konzipiert und in dem durch wichtige Arbeiten zur germanistischen Fachbibliographie ausgewiesenen Siegfried Seifert einen mit großer Sachkunde und Ausdauer begabten Bearbeiter gefunden hat. Seifert war viele Jahre Stellvertretender Generaldirektor der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten, die heute die Einrichtungen der Stiftung Weimarer Klassik bilden. Systematik, Technik der Titelaufnahme, Erschließung durch ein Namen und Sachen zusammenführendes Register, auch der Blick auf die zahlreichen Filiationen von Nachauflagen, Wiederabdrucken, Lizenzausgaben usw. bei den Quellen lassen überall die versierte Hand erkennen. Und das veröffentlichte Resultat ist in jeder Hinsicht gewichtig - leider auch in der äußeren Form, für die ein unhandliches Großformat gewählt worden ist. Der Bearbeiter hat Vollständigkeit der Titelnachweise angestrebt, freilich mit den Einschränkungen, daß Rezensionen nur verzeichnet werden, wenn sie "eine gründliche kritische Auseinandersetzung mit der jeweiligen Publikation" enthalten, und Zeitungsbeiträge ganz ausgeschlossen bleiben (was ist, wenn sie gar unveröffentlichtes Quellenmaterial mitteilen?), während Schallplatten und Mikrofiches ebenso berücksichtigt sind wie die in der Berichtszeit zahlreich erschienenen Nachdrucke. In den gigantischen, durch geschickte Ordnung einigermaßen gebändigten Titelmengen spiegeln sich neben den neuen Tendenzen und Orientierungen der Nachkriegsgermanistik auch die gewachsene Internationalität der Forschung, vor allem auch das Nebeneinander "zweier gegensätzlicher Weltsysteme und zweier deutscher Staaten - mit deutlichen Auswirkungen auf die Goethe-Rezeption".
Wer in dieser Bibliographie nicht nur punktuell recherchiert, sondern in ihr zu "lesen" versucht, kann zu durchaus überraschenden Einsichten gelangen: In 60 Sprachen - sie reichen im Alphabet vom Afrikaans bis zum Vietnamesischen - sind Goethe-Texte in den Berichtsjahren übersetzt worden, aber mehrbändige Werkausgaben sind nur in den folgenden Sprachen erschienen: Italienisch, Japanisch, Polnisch, Rumänisch, Russisch, Serbokroatisch und Spanisch. Keine größere Ausgabe also in Frankreich, keine in Amerika oder England, während doch die neueste und anspruchsvollste Goethe-Biographie von Nicholas Boyle aus Cambridge kommt. Gerade zu den Übersetzungen, die ja zusammen mit den großen kommentierten Ausgaben unter den Titelmassen den einzigen Block bilden, von dem man mit Sicherheit sagen kann, daß er die Wege zu Goethe nicht zuschüttet, sondern öffnet, erführe man oft gern noch etwas mehr: Schade etwa, um nur dieses eine Beispiel anzuführen, daß zu der großen italienischen Ausgabe der Opere im Verlag Sansoni die Inhalte der einzelnen Bände nicht mitgeteilt werden; bedauerlicher noch, daß nirgendwo vermerkt ist, daß die hochverdiente Herausgeberin Lavinia Mazzucchetti - in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts war sie eine der wichtigsten Vermittlerinnen deutscher Literatur in Italien überhaupt, nachdem sie die Faschisten ihres Mailänder Lehrstuhls enthoben hatten - bei ihren italienischen Versionen noch dem Modell der belle infidèle gefolgt ist, während erst die gleichfalls sorgfältig nachgewiesenen neueren italienischen Teilausgaben von Roberto Fertonani und Enrico Ganni im Verlag Mondadori auf Goethes Werke die transponierende Form der Übertragung angewandt haben, die dem Original so nahe zu kommen versucht, wie das die Sprache der Übersetzung gerade noch erlaubt. Dergleichen mitzuteilen freilich gehört zur hohen Kunst des bibliographischen Räsonnements, die neben der Kennerschaft auch den Mut zum kritischen Urteil voraussetzt.
Den aber kann man wohl billigerweise von einer auf möglichst vollständige Dokumentation angelegten Titelbibliographie nicht einfordern. Und doch liegt hier ein Problem, zu dessen Erörterung die Bände Anlaß geben. Denn mit der Dokumentation mag wohl dem spezialistischen Betrieb der Literaturwissenschaft zunächst Genüge getan sein, nicht jedoch auch ihrer öffentlichen Aufgabe - ein Befund, der nachdenklich stimmen sollte. Die Bibliographie ist nicht der spektakuläre Teil einer Wissenschaft, sehr wohl aber eine ihrer Grundlagen. Sie verrät daher auch viel über den Zustand eines Faches. Vor bald fünfzig Jahren bereits hatte Hans Fromm - als Mediävist, Übersetzer des finnischen Nationalepos Kalevala und Bearbeiter einer Bibliographie der deutschen Übertragungen aus dem Französischen ein Gelehrter von ungewöhnlicher Weite der Arbeitsfelder - es als den großen Sündenfall der Nachkriegsgermanistik bezeichnet, daß die Fachwissenschaftler ihre Bibliographie endgültig in die Hände der Bibliothekare gelegt hätten, während es früher gerade für die führenden Forscher vornehme Pflicht und Ehre zugleich gewesen sei, in den Jahresberichten der Berliner Akademie über die Neuerscheinungen zu berichten, und zwar nicht in Form bloßer Titelverzeichnung, sondern mit klaren Wertungen, wie sie nur der exzellente Kenner wagen darf, der selbst aktiv an der Forschung beteiligt ist. Inzwischen hat sich Fromms warnende Prognose längst erfüllt, daß die Bibliographie als in hohem Maße organisierte Form besondere Gefahr laufe, "von noch intensiver entfremdenden Formen der Dokumentation und Information überholt zu werden".
Nimmt man mit solchen Gedanken im Kopf die neue Goethe-Bibliographie
in die Hand, kommt man schnell zu der Einsicht, daß sie recht
eigentlich die Vorarbeit für die noch ausstehende räsonierende
Goethe-Bibliographie darstellt, zu deren Erarbeitung hier alles
Material bereitsteht. Mehr und weniger zugleich müßte sie bieten. Mehr
Kommentar und Wertung in der angedeuteten Weise, dafür sehr viel
weniger Titel. Das Muster könnte die zweibändige, 'von den Anfängen'
bis 1964 reichende retrospektive Goethe-Bibliographie abgeben, die,
von Hans Pyritz begründet und unter Beteiligung von Paul Raabe durch
Heinz Nicolai und Gerhard Burkhardt fortgeführt, 1965 - 1968 im
Heidelberger Verlag Carl Winter herausgekomnmen ist[1] und mit ihrer
souveränen Sonderung von Spreu und Weizen noch immer einen der besten
Wegführer durch die Goethe-Literatur bietet. Weil seit der letzten auf
Vollständigkeit angelegten Zusammenfassung im Goedeke von 1950 die
Quantitäten explodiert sind, verlangt Wegleitung durch die
Goethe-Literatur heute mehr denn je die sorgfältige Selektion nach
Qualität.
Zu diesem Zweck könnte aus den von Seifert dokumentierten Massen
vieles, sehr vieles wegfallen: Niemand braucht einen Hinweis auf acht
Seiten zu Goethe in Franz Jungbauers Kleiner Kunde der Interpretation
(1966) oder auf die 1969 vom Centre Culturel Allemand herausgegebene
Broschüre Collection Goethe. Nahezu systematisch aussondern könnte man
die als Zeichen des Interesses willkommenen, vom Inhalt her meist
jedoch unergiebigen japanischen Studien mit (oft nicht einmal
sprachrichtigen) deutschen Zusammenfassungen in Zeitschriften wie
Doitsu bungaku. Großen Anteil an der erdrückenden Titelmenge bei
Seifert haben die zahllosen sozialistischen Goethe-Publiaktionen, die
als politisch-ideologische Zeichen der Moskauhörigkeit für die
Beschäftigung mit Goethe nur Ballast darstellen. Da ließe sich denn
auch gleich die Crux beheben, daß die Sonne des Bibliographen über
Gerechten und Ungerechten strahlt: Soviel Gewinn sich aus den
verzeichneten Arbeiten Hildegard Emmels, einst Wolfgang Schadewaldts
wichtigste Helferin in den Anfängen des Goethe-Wörterbuchs, noch heute
ziehen läßt, sowenig Interesse können die Veröffentlichungen ihrer
einstigen Peiniger aus der DDR beanspruchen - nicht weil Gesinnung ein
Kriterium für wissenschaftliche Leistung wäre, sondern weil verbohrte
Ideologen selten einen Kopf haben. Was akademische Funktionäre wie
Hans-Jürgen Geerdts, Helmut Holtzhauer u.v.a.m. über Goethe
geschrieben haben, sind Quellen für Untersuchungen zur Geschichte der
Germanistik in finsteren Zeiten, liefert auch Belege für die - an sich
hinreichend bekannte - Tatsache, daß der Opportunismus in der
Wissenschaft sich gern das Kleid der Wahrheit umhängt. Noch wesentlich
größere Courage - wer will sich schon gern die Chance zu einer
Vortragseinladung verderben? - wäre vonnöten, wollte man die
belanglosen Veröffentlichungen der nicht-sozialistischen Germanistik
im westlichen In- und Ausland wenigstens dadurch markieren, daß man
sie aus der Bibliographie striche. Ein letztes Beispiel: Thomas Manns
Äußerungen über Goethe gehören natürlich als Zeugnisse der Wirkung in
die Bibliographie, aber gilt dies auch für all ihre Übersetzungen? Man
sieht: Es ist noch große Arbeit zu leisten. Aber die Voraussetzungen
dafür bietet der von Seifert zusammengetragene Fundus allemal.[2]
Hans-Albrecht Koch
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