Allen (post)modernen Totsagungen zum Trotz bleibt die Literaturgeschichte als wissenschaftliche Gattung eine unerläßliche Orientierungshilfe in einer überwucherten und kaum überschaubaren literarischen Landschaft. Erst durch Epochenbegriffe, Gattungseinteilungen und andere Kategorien verwandelt sich diese in einen geordneten und überschaubaren Garten. Was sich mit der Vergangenheit gestalten läßt, wo wir auf festen überlieferten Grundrissen bauen können, läßt sich auf die Gegenwart jedoch viel schwieriger anwenden, die per Definition etwas Offenes ist und inmitten deren der Betrachter steht. In Ermangelung eines allgemein anerkannten Kanons muß er selber eine Auswahl treffen, die zwangsläufig nur partiell sein kann. Er kann versuchen, vor allem Wegmarken und Orientierungspunkte zu setzen und sich auf wenige exemplarische Erscheinungen konzentrieren, um mit deren Hilfe allgemeine Tendenzen herauszuarbeiten. Oder er überläßt sich der Fülle seines Gegenstandes und verzichtet dabei auf prinzipielle Erörterungen. Diesen letzteren Weg wählt Hösle, der einen Kompromiß zwischen Nachschlagewerk und Literaturgeschichte anstrebt und die einzelnen Autoren meist lexikonartig in monographischen Kapiteln behandelt, die in größere historische bzw. ästhetische Zusammenhänge geordnet sind. Dagegen fehlen fast gänzlich theoretische Kontextualisierungen wie auch allgemeine Erläuterungen über die Besonderheiten des Literaturlebens und -betriebs in Italien. Dieser die Information vor der Reflexion vorziehende Ansatz entspricht dem populärwissenschaftlichen Charakter der Beck'schen Reihe, die handliche und leicht verständliche Führer im Bereich der Nationalliteraturen bietet. Die Darstellung setzt mit der Nachkriegszeit ein und ist in elf Kapitel eingeteilt, die jeweils mehrere Unterkapitel bzw. Artikel über einzelne Autoren umfassen. Das erste Kapitel ist dem Neorealismus gewidmet und behandelt u.a. Schriftsteller wie Vittorini, Pavese, Carlo Levi, Fenoglio, aber auch weniger bekannte wie Lucio Mastronardi. Das elfte und letzte berücksichtigt die Lyrik der letzten Jahrzehnte und geht vor allem auf das Werk von Amelia Rosselli, Dario Bellezza und Valerio Magrelli ein, um mit den "Neuorphikern" Milo De Angelis und Roberto Mussapi abzuschließen. Allein zwei Autoren wird die Ehre zuteil, ein ganzes Kapitel zugewiesen zu bekommen: Italo Calvino und Dario Fo, das letztere wohl ein Tribut an die Verleihung des Nobelpreises im Jahre 1997. Ein bewußter Schwerpunkt des Bandes ist die Lyrik, der nicht weniger als drei Kapitel gewidmet sind (Die großen Lyriker der Vorkriegsjahre und ihre Reaktion auf das Debakel von 1943/45, Die posthermetischen Lyriker und die bereits erwähnte Lyrik der letzten Jahrzehnte). Die anderen Kapitel behandeln das Theater (Eduardo De Filippo und das Theater nach 1945), die experimentierfreudige Literatur der fünfziger und sechziger Jahre, die regional charakterisierte Literatur, die Autoren bis 1980, die in keine der erwähnten Kategorien passen (Traditionalisten, Außenseiter, Sonderfälle, Bestseller), und schließlich den Boom der Erzählliteratur seit 1980. Auf große Erfolge der letzten Jahre wie Va' dove ti porta il cuore (1994) von Susanna Tamaro oder Seta (1998) von Alessandro Baricco wird selbstverständlich eingegangen. Die Zahl der besprochenen Autoren ist groß: Die Hinweise auf der Umschlagrückseite sprechen von 70, es dürften jedoch noch mehr sein. Im Vorwort erklärt der Verfasser, er habe grundsätzlich Autoren berücksichtigt, "welche die literarischen Diskussionen der letzten fünfzig Jahre bestimmten" (S. 11 - 12), wobei er auch deren Rezeption in Deutschland Rechnung getragen habe. Aus diesem Grund seien beachtliche Autoren wie z.B. Romano Bilenchi und Antonio Delfini ausgeschlossen, die in Deutschland kaum bekannt seien. Jede Auswahl ist letzten Endes immer anfechtbar und das Ergebnis von mühsamen Kompromissen, und Hösle kommt das große Verdienst zu, den Versuch unternommen zu haben, so umfassend wie möglich zu sein. Man könnte sich dennoch fragen, ob eine solche Darstellung nicht auch die Aufgabe hätte, eben die Aufmerksamkeit auf zu Unrecht weniger rezipierte Autoren zu lenken, zumal Hösle andererseits in einem Buch, das bewußt Kontextinformationen ausspart, unter die Neorealisten auch Persönlichkeiten wie Danilo Dolci und Don Lorenzo Milani aufnimmt, deren Bedeutung eher politisch und kulturell als rein literarisch einzustufen ist. Wie auch immer, der Verfasser hält sich zum Glück nicht so streng an seine Kriterien und bespricht gelegentlich auch Autoren, die entweder wie Luciano Bianciardi selbst in Italien (ungerechterweise) in Vergessenheit geraten sind oder wie Luisa Adorno noch nicht ins Deutsche übersetzt wurden. Als ein Eingeständnis an modische Tendenzen erscheint seine Entscheidung, die meisten Autorinnen unter Rubriken wie Dichtung von Frauen oder Neue erzählende Prosa italienischer Frauen (man beachte hier das Vermeiden von Ausdrücken wie "Autorinnen" oder "Schriftstellerinnen") einzugruppieren, die sich eher als Sammellager für die heterogensten literarischen Erscheinungen denn als signifikante gemeinsame Nenner erweisen.
In den Ausführungen zu den einzelnen Autoren verfährt Hösle im
allgemeinen chronologisch. Dabei versucht er, auch wenn er sich oft
nur mit wenigen Zeilen begnügen muß, nahezu auf jedes Werk einzugehen
und fügt meist noch kurze biographische Informationen hinzu. Calvino
werden die meisten Seiten (10) gewidmet, gefolgt von Pasolini und
Zanzotto (8), Montale (7), Ungaretti (6,5). Um seine Darstellung
lebendiger zu gestalten, greift Hösle gern und ausgiebig auf
Textzitate, direkte Aussagen der Autoren sowie Kommentare bedeutender
Kritiker zurück, die einen Eindruck von den Werken und ihrer
Rezeptionsgeschichte vermitteln. Dagegen verzichtet er meistens
- seinem Ansatz entsprechend - auf eine genauere literaturkritische
Charakterisierung der jeweiligen Autoren. Man erfährt, ob ein Dichter
seine Verse reimt oder nicht, ob er leicht oder schwer zu lesen ist,
aber seltener, worin seine "Schwierigkeit" und die Besonderheit seines
Stils bestehen und ihn von anderen unterscheiden. Diesen Verzicht
versucht Hösle mit kompetenten zusätzlichen bibliographischen Angaben
in den sich am Ende des Bandes befindenden Anmerkungen wettzumachen,
die den interessierten Leser auf sowohl italienische als auch deutsche
weiterführende Sekundärliteratur verweisen. Es stellt sich aber die
grundsätzliche Frage, ob es nicht doch sinnvoller gewesen wäre, sich
für jeden Autor auf wenige charakteristische Werke einzuschränken und
diese ausführlicher zu besprechen, anstatt von jedem Werk oder Roman
den Inhalt bzw. die Handlung notgedrungen sehr komprimiert wiedergeben
zu müssen. Daß sich in eine solch umfassende Bestandsaufnahme der
zeitgenössischen italienischen Literatur kleine Ungenauigkeiten,
Versehen und Druckfehler einschleichen, ist unvermeidbar und schmälert
nicht den Wert des Bandes.[5]
Man findet in Hösles Band erste Informationen über das Werk und Wirken
zahlreicher zeitgenössischer Autoren. Möchte man aber ein bißchen mehr
über die einzelnen Werke und deren literarische Bedeutung erfahren,
muß man nach wie vor zu Kindlers neuem Literatur-Lexikon oder einer
ausführlicheren Literaturgeschichte greifen. Das Buch dokumentiert auf
beeindruckende Weise in einem flüssig geschriebenen Stil die Vielfalt
heutiger Produktion, versäumt aber leider, dem Leser einen Leitfaden
mitzugeben, mit dem er sich schnell orientieren und die einzelnen
Erscheinungen einordnen könnte, so daß er Gefahr läuft, vor lauter
Bäumen den Wald nicht mehr zu sehen.
Giovanni di Stefano
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