Die Artikel sind relativ lang, enthalten viele biographische Details,
bibliographische Daten über Erstveröffentlichungen (im Text), Zitate
der Reaktionen von Zeitgenossen, umfangreiche Bibliographien mit
russischer und westlicher Literatur, Standorte der Archive, Siglen
wichtiger Lexika, in denen sich weitere Informationen finden lassen.
Die Verfasser sind um wissenschaftliche Objektivität bemüht, sie
lassen eigene Wertungen durch den Umfang des Beschriebenen und die
Wahl der Zitate aus Rezensionen erkennen. Ein Vergleich mit meinem
Lexikon der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts, das sich für
die Jahre 1900 bis 1917 überschneidet, zeigt, daß bei den 65
Schriftstellern, die bis zum vierten Band in beiden Lexika enthalten
sind, das große russische mit seinen erheblich längeren Artikeln
wichtige Ergänzungen bietet.[1]
Wertvoll sind drei Anlagen: eine vergleichende Liste der Ränge des
zivilen und des militärischen (Armee und Flotte) Staatsdienstes der
Zarenzeit (Bd. 1), eine Beschreibung der Klassen, Behörden, Gehälter,
Pensionen (Bd. 2) und Informationen über Bildungswesen und
Lehranstalten (Bd. 4). Die Bände enthalten Porträtreproduktionen, z.T.
auch ausgezeichnete farbige Bilder, bisweilen treffende Zeichnungen,
auch Karikaturen und Werkillustrationen.
Beeinträchtigend ist vor allem in den ersten Bänden die Beschränkung
innerhalb einzelner Artikel auf die Zeit vor dem Schnittjahr 1917, das
in der Sowjetideologie allen solchen Handbüchern oktroyierte, denn
detailliert wird nur die Zeit davor abgehandelt. (Wie mir die
Redakteure sagten, war ihnen anfangs diese Einschränkung sogar
willkommen, da Darstellungen über die Zeit nach 1917 erheblich mehr
politischen Zugeständnissen, also Fälschungen, unterlegen hätten.) Mit
dem Nachlassen des politischen Drucks werden von Band zu Band die
Angaben für die Sowjetzeit ausführlicher. So bezieht der Artikel über
Merezkovskij im vierten auch dessen Werke der Emigrationszeit ein.
Weniger beeinträchtigend für das in einem Lexikon erstrebenswerte
Gesamtbild eines Schriftstellers wirkt sich der Schnitt im Jahre 1800
aus. Bei diesem Lexikon, das so viele wenig bekannte Autoren erfaßt,
verwundert es, daß man auch Lücken entdeckt: Georgij Peskov (Elena
Al'bertovna Dejsa-Sinonickaja, geb. Repman, 1885 - 1977), 1925
ausgewandert nach Paris, 1994 und 1995 in Rußland publiziert[2] fehlt
z.B. ebenso wie der als "poetische Seele des Nordens" Rußlands
geachtete und - wie Georgij Peskov - auch künftig zu beachtende Stepan
Pisachov (1879 - 1960), der in der Sowjetzeit wenigstens geduldet
wurde.
Vergleiche mit der Kratkaja literaturnaja enciklopedija (Moskau 1962
- 1978) oder der aus politischen Gründen nicht vollständigen
Literaturnaja enciklopedija (Moskau 1929 - 1937 und München 1991)[3]
veranschaulichen den erheblich erweiterten Informationsgrad des neuen
Werkes. Beispielsweise wurde neu der Chemiker Dmitrij Mendeleev mit
einem umfangreichen Beitrag einbezogen, denn er war auch ein
bedeutender Publizist. Allerdings standen seine Ansichten im
Widerspruch zur kommunistischen Ideologie. Der neue Artikel beschreibt
seine "wissenschaftliche Publizistik", die konkrete Vorschläge "in den
Gebieten der Wirtschaft, der industriellen Entwicklung und des
Bildungswesens" des Russischen Imperiums enthält, erwähnt auch, daß er
sich gegen die damals verbreitete "falsche Lehre der Sozialisten"
stellte: Sie "müsse unvermeidlich zur Versklavung von ... Völkern
führen, denen die utopischen Begeisterungen fremd seien". Völlig
verändert ist das Bild, das nun der Artikel über Sofija Parnok (1885
- 1932) bietet. Der entsprechende in der Enzyklopädie von 1934 trägt
einen ausschließlich diffamierenden Charakter (politisch und
ästhetisch), der ähnlich kurze (800 Zeichen) im Band der Kratkaja
literaturnaja enciklopedija von 1968 hingegen lobt immerhin ein
Streben nach "Klarheit und Harmonie" und verbindet sie mit bekannten
russischen Dichtern. Der neue aber hat mit 17.000 Zeichen einen über
zwanzigfachen Umfang (!) und stellt Sofija Parnok erstmals in Rußland
ausgewogen dar. Er erwähnt ihre lesbische Liebe als Grundlage vieler
Gedichte, ihre Zugehörigkeit zu der bedeutenden, noch nach dem Umsturz
von 1917 unpolitischen Lyrikervereinigung "Cech poetov" und bezieht
auch die Beachtung ein, die diese Lyrikerin bei Emigranten (Ju. Ivask)
und westlichen Slavisten (D. Burgin, New York 1994) fand.
Was dieses Lexikon auszeichnet, sind zunächst die große Anzahl
aufgenommener Schriftsteller und der große Umfang der einzelnen
Artikel mit konzentrierter Darstellung, also der Informationsreichtum.
Bei einer russischen Publikation ist ferner das Bemühen um
wissenschaftliche Objektivität herauszustellen, und zwar nicht nur im
Vergleich zur Sowjetzeit, sondern auch gegenwärtig, denn es
publizieren derzeit durchaus noch russische Wissenschaftler, die nicht
einmal die Ideologie der Stalinzeit überwunden haben. Macht man sich
noch die miserablen materiellen Bedingungen bewußt, unter denen dieses
Lexikon gegenwärtig in Rußland erarbeitet wird, verdienen die
Redakteure Hochachtung und Dank auch von uns Wissenschaftlern im
Westen.[4] Dieses Lexikon gehört in jede Universitäts- und
Staatsbibliothek, auch in jedes Slavistische Seminar, wird sich aber
auch Historikern, Philosophen und im religiösen Bereich arbeitenden
Wissenschaftlern bei der Forschung nützlich erweisen.
Wolfgang Kasack
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