Ein Teil der im neuen Lexikon behandelten Dichter ist als Lyriker bekannt, so z.B. Konstantin Bal'mont, Vladislav Chodasevic, Marina Cvetaeva, Lev Druskin, Georgij Ivanov oder Dmitrij Klenovskij, Gedichte von ihnen sind auch ins Deutsche übersetzt, und es liegen wissenschaftliche Arbeiten, auch Monographien vor. Andere Dichter haben in der Literaturgeschichte einen Namen als Prosaiker, haben aber auch Lyrik geschrieben, so Ivan Bunin oder Vladimir Nabokov. Eine dritte Gruppe ist vor allem durch wissenschaftliche Werke und Editionen im Bewußtsein von Slavisten, z.B. Boris Filippov, Vladimir Markov, Gleb Struve, Vladimir Vejdle und Vjaceslav Zavalisin. Lyriker und Wissenschaftler sind auch die Autoren des Lexikons selbst: Vadim Krejd, der Herausgeber, Valentina Sinkevic und Dmitrij Bobysev. Groß ist der Anteil der im Lexikon vertretenen fast unbekannten Lyriker, was sich weitgehend aus den erheblichen Publikationsschwierigkeiten in der Emigration erklärt.
Vadim Krejd und Valentina Sinkevic haben seit Jahren bedeutende Arbeit
für die Erhaltung der russischen Emigrationslyrik und ihre Rückführung
in die russische Literatur geleistet, indem sie entsprechende
Lyrikanthologien veröffentlichten. Es sind die besten neueren in
diesem Bereich. Valentina Sinkevic gibt seit 1977 jährlich in
Philadelphia die Anthologie russischer emigrierter Dichter Vstreci
heraus - eine hervorragende Leistung und bleibende Quelle für die
Geschichte der russischen Literatur - und stellte 1992 mit Berega die
erste Anthologie mit Gedichten der "Zweiten Welle" zusammen, Lyrik
jener Emigranten, die wie sie selbst infolge des Zweiten Weltkrieges
in den Westen geratenen sind.[2] Vadim Krejd ist Herausgeber der
ältesten und führenden Literaturzeitschrift der Emigration, des Novyj
zurnal (New York), und hat 1995 in Moskau einen Band mit Gedichten von
200 Lyrikern der zwischen 1917 und 1980 Emigrierten, also der Hälfte
der Einbezogenen, veröffentlicht. Mit dem von Georgij Ivanov
übernommenen Titel definierte er in nicht zu übertreffender Weise den
Sinn jener Anthologie: "Zurückkehren nach Rußland im Gedicht ...".[3]
Beide hatten ihren Editionen einen biobibliographischen Anhang
beigefügt, auf den sie bei der Ausarbeitung des nun vorliegenden
Lexikons zurückgreifen konnten. Krejd übernahm für seinen Teil - die
Erste Emigration (275 Seiten) - manche Texte fast wörtlich, und
Sinkevic nutzte für den ihren - die Zweite Welle (65 Seiten) - die von
ihr für die Anthologie Berega erbetenen Autobiographien. Dmitrij
Bobysev, dem Krejd die Bearbeitung der "Dritten Welle" (90 Seiten)
übertragen hat, war auf eigene Forschung und vorhandene Lexika
angewiesen. Bei Jurij Ivask und Igor' Cinnov konnte er dieselben
Artikel wählen, die er kaum verändert in dem fast gleichzeitig in
Moskau erschienenen Lexikon Russkie pisateli : XX vek[4]
veröffentlichte. In diesem politisch und wissenschaftlich äußerst
heterogenen Werk gehören seine zwei Beiträge zu denen, die ein
positives Gegengewicht gegenüber den stalinistischen Verherrlichungen
ehemaliger sowjetischer Literaturfunktionäre bilden.
Angesichts der erheblichen Zahl wenig bekannter russischer Lyriker,
die Krejd in sein Lexikon einbezogen hat, konnten die Autoren nur bei
einem Teil auf ausgewählte Anthologien (12) und Handbücher (20)
verweisen, in denen Gedichte abgedruckt sind oder sich Beiträge über
sie befinden. Zu den wichtigsten gehören Dictionary of Russian women
writers (1994),[5] Handbook of Russian literature[6] und Pisateli russkogo
zarubez'ja.[7] Verwendet wurde auch mein Lexikon der russischen
Literatur des 20. Jahrhunderts,[8] allerdings meist nicht diese Ausgabe,
sondern die weniger vollständige Londoner russische von 1988, sogar
nicht die amerikanische der Columbia University Press, New York, von
1988. Die umfangreichere Moskauer russische Ausgabe von 1996 lag
während der Ausarbeitung noch nicht vor.
Der Umfang der Artikel liegt zwischen wenigen Zeilen bei Lyrikern, die
nur eine geringe Anzahl von Gedichten veröffentlichen konnten,
manchmal nicht einmal einen einzigen Band, bis zu drei Druckseiten.
Der Bearbeitungsstand reicht bis zum Jahr 1995. In den Artikeln
überwiegt das Biographische, wobei die Geburtsdaten ggf. nach
Julianischem und Gregorianischem Kalender angegeben werden und Wert
auf Informationen über die Herkunft gelegt wird. Besondere
Aufmerksamkeit wird der Anführung der Almanache, Anthologien und
Zeitschriften gewidmet, in denen jeweils Gedichte erschienen sind.
Beschreibungen und Beurteilungen des lyrischen Schaffens, seiner
jeweils typischen Kennzeichen und seine Einordnung in die russische
Literatur finden sich vor allem bei bekannten Dichtern, treten aber
oft gegenüber biographischen Informationen zurück. (Ein Vorteil des
erwähnten Dictionary of Russian women writers liegt darin, daß die
Artikel mit einer knappen Definition des Wesentlichen der
Schriftstellerin beginnen.) Überwiegend werden dafür Zitate anderer
russischer Lyriker geboten. Das liegt daran, daß die Autoren selbst
Lyriker sind und solche Äußerungen oft zu den gut treffenden
Formulierungen gehören.
Einige Artikel heben sich durch größere Ausführlichkeit und stärkeres
Eingehen auf die Eigenart des dichterischen Schaffens heraus. Bei
Krejd sind das z.B. die über Konstantin Bal'mont, Georgij Ivanov und
Ljubov' Stolica, bei Valentina Sinkevic, die sich um solche
Abstraktionen besonders bemüht hat, die über Ivan Elagin, Oleg
Il'inskij und Nikolaj Morsen, bei Dmitrij Bobysev die erwähnten über
Cinnov und Ivask. Hier erkennt man die langjährige Beschäftigung oder
das nahe persönliche Verhältnis der Autoren zu den Lyrikern. Bei
diesen und bei ähnlich bekannten russischen Dichtern bereichern die
Beiträge gut die vorhandene Literatur, zeigen Eigenes. Immer aber wird
es ratsam sein, andere Lexika vergleichend und ergänzend
heranzuziehen. Sehr lohnend ist z.B. das parallele Lesen der Artikel
von Aleksis Rannit über Bal'mont (im Handbook ... von Terras), von
Natal'ja Bank über Elagin (in Russkie pisateli von Skatov).
Die Bibliographien zeigen, daß Herausgeber und Autoren vor allem an
russische Benutzer gedacht haben. Sie sind daher im Prinzip weniger
umfassend als vergleichbare in deutschen oder manchen amerikanischen
Lexika und nicht nur weitgehend auf russische Titel beschränkt (es
fehlen wichtige Monographien in anderen Sprachen), sondern sie führen
sogar westliche Städte (nicht nur New York, Frankfurt a. M., München,
sondern auch kleine, wenig bekannte) in kyrillischer Schrift an.
Lediglich wenn einmal eine englische Zeitschrift genannt wird, erfolgt
dies im Original. Die technischen Möglichkeiten der heutigen
Computerherstellung hätten die in Bibliotheken übliche Form
ermöglicht. Es wäre auch nützlich gewesen, die jeweilige lateinische
Schreibweise der Lyriker in den USA, Frankreich oder Deutschland
anzugeben. Das vorliegende Lexikon bildet hier keine Ausnahme, es hat
lediglich eine sowjetische Praxis übernommen. Schwierigkeiten
entstehen insbesondere bei seltenen Namen im Rahmen der Beschreibung
des Lebens im Westen. Zu begrüßen ist es, daß Krejd für seine Edition
das System des Hinweises auf die verwendeten Handbücher mit Siglen
übernommen hat, zu bedauern, daß die Verweisungen unvollständig sind.
Da zu den ausgewählten 20 Handbüchern sechs westliche Werke gehören,
wird wenigstens in dieser Weise auch auf nichtrussische Forschung
verwiesen. Es wäre ein Gewinn gewesen, wenn man auch Jan Paul Hinrichs
Buch Verbannte Muse[9] einbezogen hätte, denn dessen Auswahl ist
ausgezeichnet, die Sicht eigenständig und Literatur zu einigen dieser
Lyriker sehr selten.
Die Ordnung der Lyriker erfolgt für jede Emigrationswelle getrennt. In
einem solchem Lexikon hätten alle Lyriker in alphabetischer
Reihenfolge stehen sollen, denn der Benutzer, der sich über einen
Dichter informieren will, weiß nicht immer, zu welchem Zeitpunkt
dieser ausgereist ist. Es hilft das Register, das den Vorteil hat,
alle im Lexikon erwähnten Namen aufzuführen, doch den Nachteil, die
Lyriker mit eigenem Artikel nicht herauszuheben. Dem historisch
Forschenden erleichtert die gewählte Gliederung die Arbeit, zumal die
Lyriker der einzelnen "Wellen" im Inhaltsverzeichnis zusammengefaßt
sind. Wie sehr Krejd eine solche Edition als Beitrag zu künftiger
literaturhistorischer Forschung ansieht, zeigte schon seine Edition
Dal'nie berega, in der er erstmals Beiträge von Emigranten über
Schriftsteller der ersten Emigrationswelle vereint hat - 50 Texte über
36 bedeutende Autoren.[10] Krejds ausführliche Kommentare (35 Seiten)
erhöhen den Wert dieser Edition für künftige Forschung. Das zentrale
Werk, das durch die Anthologien und Handbücher von Krejd und anderen
Wissenschaftlern ergänzt wird, schrieb John Glad mit seiner
umfassenden literarhistorischen Abhandlung Russia abroad für die Zeit
von 906-1991.[11]
Krejd hat mit seinen beiden Mitarbeitern ein gutes Werk getan: Sie
haben das Arbeiten über mehr oder weniger bekannte russische Lyriker
erleichtert und sie haben viele Namen vor dem Vergessen bewahrt.
Zusammen mit den Anthologien Vstreci, Berega und Vernut'sja v Rossiju
- stichami ... wird das neue Lexikon jedem der über russische Lyrik
des 20. Jahrhunderts arbeitet, zum unentbehrlichen Handbuch werden.
Wolfgang Kasack
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