Christine D. Tomeis wissenschaftlich angelegtes Werk Russian women writers - eine Verbindung von Handbuch und Anthologie - veranschaulicht das Schaffen und die Bedeutung von 71 russischen Schriftstellerinnen von den ersten Anfängen der russischen Nationalliteratur im 18. Jh. bis zum Ende des 20. Jh., konkret von der Zarin Katharina II. bis Marina Palej (geb. 1955). Der einzelnen Schriftstellerin sind im Schnitt zwanzig Seiten gewidmet, davon entfallen etwa drei Fünftel auf Textbeispiele, die ins Englische übersetzt sind, und zwei Fünftel auf einen Leben und Werk beschreibenden Essay, eine Bibliographie und Anmerkungen. Die Herausgeberin hat für jede russische Schriftstellerin einen eigenen Verfasser gewählt, überwiegend amerikanische Wissenschaftlerinnen.
Jeder der 71 Schriftstellerinnen ist im Vergleich zu dem vorstehend angezeigten Autorenlexikon erheblich mehr Raum zugestanden, nicht nur für die übersetzten Texte. Die nichtalphabetische Ordnung zeugt davon, daß es nicht als Autorenlexikon geplant ist, aber außerhalb des amerikanischen Universitätsbetriebs wird man es vor allem als Handbuch nutzen. Wie in einer Literaturgeschichte ist die Grundordnung chronologisch. Diesen acht "Sektionen" wurden auch literarische, einem Werk aus dem Zeitraum entsprechende Titel gegeben. (Mit Michail Lermontovs A hero of our time ist die Sektion mit den 1704 - 1814 Geborenen überschrieben.) Die Reihenfolge der Schriftstellerinnen innerhalb dieser Sektionen ist alphabetisch, doch weicht die siebte davon ab. Bei der Benutzung als Nachschlagewerk bekommt also das Register erhöhte Bedeutung. Es ist zwar umfangreich, aber die Seiten mit den Artikeln der einzelnen Schriftstellerinnen sind nicht durch Fettdruck hervorgehoben.
Die Art der Artikelanfänge wurde von Ledkovskys Dictionary übernommen, sie beginnen mit einer Charakteristik des Platzes der jeweiligen Schriftstellerin in der russischen Literatur, geben aber leider nicht die Betonung des Namens an. Darüber ist (fast immer) ein meist hervorragend gewähltes und sehr gut reproduziertes Photo gestellt. Angesichts der Ausführlichkeit der Artikel und des Tatbestandes, daß viele dieser Schriftstellerinnen in bisherigen Literaturgeschichten gar nicht oder nur am Rande genannt werden und daß von ihnen oft noch nichts übersetzt wurde, zeugen die beiden Bände von viel neuer Forschung. Einige Beiträge stammen von denselben Autoren, die für das Dictionary geschrieben hatten, doch die andere Gesamtstruktur gibt ihnen mehr Raum. Selbstverständlich berücksichtigen auch hier alle Beiträge das feminine Element im Werk. Die Artikel sind mit Anmerkungen gearbeitet und gleichen in dieser Hinsicht denen in wissenschaftlichen Zeitschriften und Sammelbänden. Die Textauszüge sind in der Regel von den Verfassern selbst neu übersetzt. Die Bibliographien sind ausführlich gehalten, bieten bei der Primärliteratur auch Übersetzungen ins Englische, die Sekundärliteratur ist auf russische und englische Titel beschränkt, es fehlen sogar wichtige Monographien in anderen Sprachen. Das gute System der Verweisungen mit Siglen wurde nicht angewandt, was die Qualität auch für die Universitätslehre senkt.
Zu den besonders guten Artikeln gehören solche, bei denen die Autoren
bereits Monographien, Artikel oder Lexikonbeiträge über die
Schriftstellerinnen geschrieben hatten und bei heute lebenden
persönlichen Kontakt aufnehmen konnten. Dazu zählen beispielsweise die
über Ekaterina Daskova (1743 - 1810) von Alexander Woronzoff-Dashkoff,
über Inna Lisnjanskaja (geb. 1928) von Ronald Meyer, über Elizaveta
Mnatsakanova (geb. 1922) von Gerald Janecek, über Sofija Parnok (1885
- 1933) von Diana Lewis Burgin, über Ljudmila Petrusevskaja (geb.
1938) von Melissa T. Smith und Nyusya Milman, über Ol'ga Sedakova
(geb. 1949) von Valentina Polukhina (mit Unpubliziertem aus der
Sowjetzeit in der Bibliographie), über Anna Radlova (1891 - 1949) von
Olga Muller-Cooke (jahrzehntelang unbeachtet, mit sachlich und
menschlich wichtigen Korrekturen der Vospominanija von Nadezda
Mandel'stam, uni sono mit Veniamin Kaverin, der andere menschlich
schlimme Fälschungen in einem offenen Brief vom 20.3.1973
anprangerte),[2] über Frida Vigdorova (1915 - 1965) von Teresa Polowy.
Leider gibt es in Tomeis Werk auch recht schwache Artikel. Sogar der
über die hochbedeutende Anna Achmatova (1889 - 1966) gehört dazu. Er
zeigt trotz der reichlichen Sekundärliteratur mangelnde
Grundkenntnisse der politischen Situation der Schriftstellerin unter
dem Sowjetsystem. Die Autorin spricht von einem Schriftstellerkongress
im August 1946, bei dem Achmatova aufgetreten sei, dabei hat die KPdSU
nach dem Kriege Kongresse nicht zugelassen, und das Jahr 1946 ist in
der Geschichte der Sowjetliteratur vor allem bekannt wegen eines
Parteierlasses, in dem Achmatova beispielhaft angegriffen wurde, um
die Literatur insgesamt stärker zu ideologisieren. Sehr schwach ist
auch der Artikel über Margarita Aliger (1915 - 1992). Daß die bereits
1992 verstorbene Schriftstellerin als lebend bezeichnet wird, macht
stutzig, ist aber verzeihlich. Auch hier hätten Informationen einfach
aus dem Dictionary entnommen werden können. Der Hinweis auf A. Fadeev,
als "famous novelist" ist typisch für die Unkenntnis des politischen
Umfelds. Rosina Neginsky hatte es hingegen im Dictionary sehr gut in
Bezug zum Schaffen gestellt. Die Schwierigkeit der Edition solcher
Handbücher erkennt man beim Vergleich mit Sibelan Forresters gutem
Artikel über Marija Petrovych, wo Fadeevs Mitverantwortung für den Tod
vieler Schriftsteller klar herausgestellt wird.
Den Autoren stand neben dem beschriebenen Dictionary eine Reihe
weiterer Handbücher zur Verfügung. Zwar wurden die Sammelbände Women
writers in Russian literature[3] und A history of Russian women's
writing,[4] beide gleichfalls von 1994, häufig herangezogen, doch sind
Hinweise auf andere Lexika selten. Das wichtige, von Victor Terras
herausgegebene Handbook of Russian Literature[5] von 1985, das auch zu
zahlreichen Schriftstellerinnen gute Beiträge enthält, wird nur von
wenigen zitiert - so von Tamira Pachmuss im Artikel über Nadezda
Teffi. Der Artikel über Marija Skapskaja hätte durch Einbeziehung des
bei Terras enthaltenen von Boris Filippov ebenso gewonnen wie der über
Lidija Cukovskaja durch Benutzung des dortigen Artikels von John Glad,
einem der besten Kenner der Emigrantenliteratur (dadurch fehlt z.B.
auch der Hinweis auf E. Brejtbarts Artikel).[6] Vergeblich sucht man in
Russian women writers nach auch nur einer einzigen Erwähnung von Xenia
Gasiorowska, die vor drei Jahrzehnten über Women in Soviet fiction
1917 - 1964[7] schrieb, und dann von Terras für einen sehr großen
Überblicksartikel Women and Russian literature[8] herangezogen wurde.
Mein Lexikon lag zur Zeit der Ausarbeitung von Tomeis Werk sowohl auf
Englisch als auch auf Russisch vor.[9] Es wurde aber so gut wie nicht
benutzt, obwohl die Sigle von Ledkovsky und ihren beiden
Mitarbeiterinnen regelmäßig angegeben wird und innerhalb der 747
Autoren und Autorinnen, die ich einbezogen habe, neunzig Prozent der
von Tomei ausgewählten Schriftstellerinnen erfaßt sind. Die sieben aus
dem 20. Jahrhundert, die von Tomei zusätzlich aufgenommen wurden,
bestätigen die Qualität ihrer Auswahl.
Gleichzeitig erschien der von Neil Cornwell herausgegebene Reference
guide to Russian literature.[10] Er konnte also noch nicht berücksichtigt
werden. Bei Cornwell betreffen von den 273 Artikeln 42 russische
Schriftstellerinnen. 37 davon befinden sich unter den 71 bei Tomei.
Eine parallele Nutzung ist durchaus zu empfehlen. Verwiesen sei auch
auf die Edition von Kay Borowsky von 1993, die zu 19 der von Tomei
einbezogenen Lyrikerinnen Gedichte in seinen Nachdichtungen enthält.[11]
Seiner Auswahl guter Gedichte von 47 russischen Dichterinnen hat er
einen lexikalischen Anhang beigefügt, so daß dieser Band auch
insgesamt eine lohnende Ergänzung der amerikanischen Edition
darstellt. Sehr nützlich ist auch die Verzettelung russischer
Zeitschriften (1975 - 1995) von Christina Parnell und Carolin Heyder
(Primär- und Sekundärliteratur).[12]
Das Dictionary of Russian women writers von 1994 wird in vielen
Bibliotheken vorhanden sein, sonst ist eine Anschaffung dringend zu
empfehlen. Die neue Anthologie Russian women writers hat zwar nicht
denselben Handbuchcharakter, aber ihr Besitz ist wegen der guten
Auswahl, vieler eigenständiger Darstellungen und der Beispieltexte
ebenfalls ein Gewinn für jede von Slavisten benutzte Bibliothek.
Borowskys Anthologie rundet in Deutschland den Bereich der Handbücher
zu russischen Schriftstellerinnen ab. Beide Editionen sind wichtige
Beiträge zur Forschung dieses Bereichs, die dabei ist, eine erhebliche
Lücke in den Literaturgeschichten zu schließen.
Wolfgang Kasack
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