Der in acht Kapitel der gewohnten Perioden gegliederten Literaturgeschichte hat Lauer eine Einleitung - Wurzeln und Charakter der russischen Literatur - vorangestellt, die auf wesentliche und weiterwirkende Elemente der altrussischen Literatur hinweist und auch Lauers Bemühen zeigt, den gegenwärtigen Zeitpunkt der Niederschrift deutlich zu machen: Ende des 20. Jahrhunderts begann in Rußland ein Wandel der Betrachtung der russischen Literatur, sie löst sich von der jahrzehntelangen politischen Gängelung, Selektion und Verfälschung. Die Untergliederung der Kapitel richtet sich nach den Besonderheiten der jeweiligen Periode. Natürlich haben Fedor Dostoevskij und Lev Tolstoj eigene Unterkapitel. Ihr identischer Umfang, der auch dem Puschkinkapitel entspricht, bezeugt die Planung. Andere Autoren sind in Unterkapiteln zusammengefaßt. Dabei ist es recht unausgewogen, wenn Vsevolod Garsin nicht einmal ein eigener Absatz, sondern nur ein Hinweis von 14 Zeilen gewidmet wird, merklich weniger als in schmaleren anderen Literaturgeschichten. Selbstverständlich ist die gesonderte kurze Abhandlung von Strömungen wie dem Symbolismus, aber Unterkapitel Realistische Sprache - realistische Verfahren neben Der realistische Roman sind Lauers eigene Methode und bieten eine gute Grundlage für Gesamtvorstellungen einer Phase und Einordnung einzelner Autoren.
In die Darstellung des zwanzigsten Jahrhunderts sind die erste und
dritte Emigrationswelle gut integriert, aber die zweite mit jenen
Autoren, denen die Flucht aus der Sowjettyrannis im Schutz der
deutschen Truppen gelang und die dann der Auslieferung durch die
Alliierten zum sicheren GULag-Tod entkommen konnten, hat Lauer nicht
einbezogen. Dabei werden in Rußland z.B. Nikolaj Morsen, Ivan Elagin
und seine erste Frau Ol'ga Anstej bereits beachtet, desgleichen der
Lyriker Dmitrij Klenovskij, den Georgij Ivanov hoch schätzte und
Johannes von Guenther in seiner Literaturgeschichte sogar als eine
"gewaltige Dichterpersönlichkeit" bezeichnet. Auch verdankt der
Literarhistoriker zwei Autoren dieser Gruppe viel: Boris Filippov hat
große Verdienste um den Erhalt des Schaffens unterdrückter russischer
Dichter wie N. Gumilev und O. Mandel'stam, Valentina Sinkevic (einst
Ostarbeiterin) hat die bisher einzige Anthologie der Lyriker dieser
Gruppe zusammengestellt (Berega 1992) und gibt seit 1977 Jahr für Jahr
die gute Anthologie Vstreci mit neuen Gedichten der Emigranten heraus.
Diese Lücke in Lauers Werk zeigt die erfolgreiche sowjetische
Unterdrückung der russischen Auslandsliteratur. Denn jene Dichter der
Nachkriegsjahrzehnte fanden auch im Westen lange keine Beachtung.
Victor Terras hat dieser zweiten Emigrationswelle in seinem Kapitel
der Cambridge history of Russian literature wenigstens eine kleine
Seite gewidmet.[3] Die Integration hat begonnen, ist aber bisher weder
in Rußland noch im Westen ausreichend.
Lauer hat auch einige Autoren, die erst in der Nachsowjetzeit bekannt
wurden, mit ausgewählten Werken vorgestellt. Ein Blick in die letzten
Seiten der oben aufgeführten Literaturgeschichten verdeutlicht, daß in
keinem Bereich die Auswahl, manchmal auch die Wertung so strittig sein
kann, wie in der Nähe zur Gegenwart, aber Lauer bietet hier Hilfen,
die auch über neue Lexika hinausgehen. Lediglich beim Blick auf das
Gesamtwerk wird es unstimmig, wenn Autoren, die in der Gegenwart durch
Provokationen und nicht durch dichterische Aussagen ins Bewußtsein
geraten sind, ein bis zwei Seiten erhalten, während z.B. Boris
Sirjaev, der durch seine Flucht im Kriege in die Lage kam, eine der
ersten Darstellungen des GULag (Solovki) zu schreiben und in
Religioznye motivy v russkoj poezii (1960) einen unikalen Beitrag zur
russischen Literaturgeschichte leistete, nicht einmal erwähnt wird.
Wie die Art des Registers so ist auch sonst die darstellungstechnische
Seite dankbar zu loben. Alle Namen und Orte sind wissenschaftlich
transkribiert, jeder Werktitel wird auf Russisch zitiert, dann
übersetzt und das Erscheinungsjahr genannt, im Register sind stets
Namen und Vatersnamen mit Lebensjahren angegeben, der Anhang enthält
ein Zeitschriftenverzeichnis mit Seitenhinweisen, eine Liste
russischer literaturwissenschaftlicher Begriffe mit Erklärungen, die
Bibliographie bietet sogar einen Abschnitt zur Rezeption
westeuropäischer Schriftsteller und Philosophen. (Daß es dort neben
dem Abschnitt Der Sozialistische Realismus einen zweiten Zum
Sozialistischen Realismus gibt, bestätigt, daß dem Autor
erfreulicherweise der Textteil das wichtigste war.)
Vergleicht man Lauers Einzelbeschreibungen von Werken mit denen in
anderen Literaturgeschichten, bietet er dank des größeren Umfangs oft
mehr und zeigt neben guter Kenntnis von Sekundärliteratur auch
Ergebnisse jahrzehntelanger eigener Forschung. Bei Lyrik geht er sogar
oft auf das Versmaß ein. Der Vergleich mit Lauers Vorläufern stärkt
nicht selten deren Anerkennung. Sie setzten andere Schwerpunkte und
sahen manches ästhetisch, religiös oder politisch anders. Jede
Slavische Instituts-, Universitäts-, Landes- und Staatsbibliothek muß
dieses Buch griffbereit halten, und jeder, der sich mit russischer
Literatur befaßt, sollte regelmäßig nach ihm greifen. Es bringt Freude
und Nutzen.
Wolfgang Kasack
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