Mehr noch als für die vorangehenden Epochen der antiken Literatur erfordert die Beschäftigung mit der Spätantike einen weiten Literaturbegriff, wie er in der Klassischen Philologie seit je gebräuchlich ist. Zwei einleitende Beiträge von Alexander Demandt und den Herausgebern charakterisieren die Spätantike als Epoche und beschreiben in Grundzügen die - u.a. durch die lateinisch-griechische Bilingualität des Imperium Romanum gekennzeichnete - literarische Kommunikation sowie die Überlieferungsgeschichte.
Die folgenden Abschnitte gelten u.a. dem Textcorpus der Bibel und der theologischen Literatur, der Philologie und Rhetorik als Bildungsfundamenten bzw. dem Verhältnis von paganer Rhetorik und christlicher Predigt, der Briefliteratur, der historiographischen (einschließlich autobiographischer und hagiographischer) Prosa und dem juristischen Fachschrifttum, den philosophischen Texten des Neuplatonimus sowie den fachwissenschaftlichen Werken im engeren Sinne des Wortes und der Herausbildung der spätantiken Enzyklopädie. Die Aufzählung veranschaulicht, in welcher quantitativen Relation die erwähnten Teilbereiche zu der in zwei Kapiteln abgehandelten fiktionalen Prosa und der Poesie stehen.
Mit seiner Schwerpunktsetzung spiegelt der Band überall die fließend gewordene Grenzziehung zwischen altertumswissenschaftlichen und mediävistischen Disziplinen: Die Septem Artes, speziell Grammatik und Rhetorik, bilden die Basis der mittelalterlichen Antike-Renaissancen; spätantike Trojadichtungen oder der Alexanderroman vermitteln den hoch- und spätmittelalterlichen Autoren die Kenntnis der entsprechenden Stoffe usw.
Den Band beschließen ein rezeptionshistorischer Ausblick zu Spätantike und lateinischem Mittelalter sowie eine knappe Darstellung der byzantinischen Literatur. Beide Kapitel führen in fundamentale Fragen der abendländischen Literatur- und Bildungsgeschichte ein, der byzantinistische beleuchtet eine auch dem historisch Versierten meist nur in blassesten Umrissen bekannte Literatur, ohne deren Kenntnis jedoch die Wende des italienischen Humanismus zum Griechischen gänzlich unverstanden bleibt.
Wie alle Bände des Neuen Handbuchs der Literaturwissenschaft bietet auch dieser jeweils am Ende der einzelnen Essays knappe Auswahlbibliographien wichtiger Forschungsliteratur, nicht jedoch der Texteditionen. Die zahlreichen Abbildungen sowie eine - Daten der allgemeinen Geschichte und der Literatur synoptisch konfrontierende - Zeittafel helfen zu Anschaulichkeit und Orientierung; zwei Register der Personen und Werke erschließen den Inhalt im Detail.
Hans-Albrecht Koch