Das Lexikon ... beschränkt sich keineswegs auf die großen jüdischen
Komponisten der Vergangenheit (Mendelssohn-Bartholdy, Meyerbeer,
Offenbach) und der Gegenwart (Schönberg), sondern berücksichtigt auch
Interpreten, Verleger und Musikpädagogen, so wenig bedeutend sie auch
waren, und ebensowenig auf Deutsche, da es ja galt, die Aufführung der
Musik ausländischer jüdischer Komponisten in Deutschland zu
verhindern. Wie penibel die Bearbeiter vorgingen, zeigt, daß "selbst
bei allgemein als Juden bekannten Personen ... in allen noch nicht
einwandfrei urkundlich ausgewiesenen Fällen ein Kreuz als
Vorbehaltskennzeichnung eingefügt (wurde)" (S. 187). Mit Hilfe
zahlloser "Personalanfragen ... bei Einwohnermelde- und Kirchenämtern"
(S. 11) versuchten sie, die "größtmögliche Zuverlässigkeit" (S. 187)
zu erreichen, was aber etwa im Fall von George Gershwin nicht gelang,
weshalb sein Eintrag mit dem genannten Kreuz markiert ist. Dank der
teils von Mitarbeitern der Hauptstelle Musik selbst (darunter
insbesondere W. Boetticher), teils von Denunzianten in den besetzten
Ländern beigesteuerten Namen vermehrte sich der Anteil von
ausländischen Juden von Auflage zu Auflage immer mehr. Von den
genannten "Größen", die mit ausführlichen, abwertenden Artikeln[4]
vertreten sind, abgesehen, beschränken sich die allermeisten auf Name,
Geburts- und ggf. Todesort- und -datum sowie die musikalische
Tätigkeit. Daß in zahlreichen Fällen bei Zeitgenossen nur der letzte
Wohnort und kein Todesdatum angegeben ist, hängt in vielen Fällen mit
den "mörderischen Folgen" des Lexikons ... zusammen, verlieren sich
doch die Spuren vieler auf dem Weg in die Deportation oder in den
Konzentrationslagern. Die Schicksale von 259 im Lexikon ...
enthaltenen Deportationsopfern konnte die Herausgeberin durch Abgleich
aller Namen an den Sterbebüchern von Auschwitz und sonstigen
nationalen und lokalen Gedenkbüchern für die Opfer der Verfolgung der
Juden ermitteln.[5] Ihre Namen und Daten sind auf S. 386 - 419 in
alphabetischer Folge zusammengestellt. Ob die für die Deportation und
Ermordung Verantwortlichen freilich das Lexikon ... benötigten oder
überhaupt benutzten, ist eine andere Frage.
Die lange Einleitung enthält im ersten Kapitel zahlreiche
Informationen über Das Amt Musik in Berlin als Kontrollinstanz für die
Arisierung des deutschen Musiklebens,[6] so ausführlich über Herbert
Gerigk und sein Personal (S. 60 - 79) sowie - für die Leser von IFB
besonders interessant - über die Musik in Geschichte und Gegenwart,
als dessen "Vater" Gerigk anzusehen ist (S. 48 - 60). Daß die MGG
trotz ihres Status als 'kriegswichtiges' Werk damals nicht mehr
erscheinen konnte, hängt mit dem Ende des 'Dritten Reiches' zusammen.
Der neue, relativ 'unbelastete' Herausgeber, Friedrich Blume, konnte
jedoch ab 1949 auf die Texte der schon von Gerigk rekrutierten
Mitarbeiter zurückgreifen, die lediglich von den gröbsten
Entgleisungen befreit werden mußten. Daß weder im Vorwort zu Lfg. 1
(1949) noch zu Bd. 1 (1951) der MGG dieser Vorgeschichte gedacht,
sondern nur erwähnt wird, daß der "Gedanke der Enzyklopädie ...
bereits 1943 von dem Bärenreiter-Verlag ... ausgegangen (ist)",
verwundert nicht. Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit den Quellen
des Lexikons ..., enthält Fallbeispiele sowie Informationen über das
bereits erwähnte Ausgreifen des Amtes in besetzte Länder. Man möchte
wünschen, daß der von der Herausgeberin ins Auge gefaßte "Folgeband
mit den Biographien der zu Unrecht vergessenen Emigranten und
Verschollenen" (S. 11) zustande kommt.
Klaus Schreiber
- [1]
- Lexikon der Juden in der Musik : mit einem Titelverzeichnis
jüdischer Werke / zsgest. im Auftrag der Reichsleitung der NSDAP auf
Grund behördlicher, parteiamtlich geprüfter Unterlagen. Bearb. von
Theo Stengel in Verbindung mit Herbert Gerigk. - Berlin : Hahnefeld,
1940. - 9 S., Sp. 11 - 380. - (Veröffentlichungen des Instituts der
NSDAP zur Erforschung der Judenfrage ; 2).
- Bis 1943 sind noch weitere drei, vermehrte Aufl. nachweisbar; eine
fünfte Aufl., für die Korrekturfahnen vorlagen, konnte nicht mehr
erscheinen:
- [2. Aufl.]. - 1940. - 9 S., Sp. 10 - 393.
- [3. Aufl.], 6. - 8. Tsd. - 1941. - 9 S., Sp. 10 - 404.
- [4. Aufl.], 12. - 14. Tsd. - 1943. - 9 S., Sp. 11 - 404.
- Bei der 4. Aufl. ist der Schluß des Vorworts ab S. 8 verändert. Ob es
eine weitere Auflage gab, was der Sprung in der Tausenderzählung von 8
auf 12 nahelegt, konnte der Rez. nicht ermitteln.
- Auch wenn die Herausgeberin des Reprints "die heute z.T. nicht mehr
greifbaren Kriegsauflagen des 'Lexikons'" (S. 65) erwähnt, wäre es
sinnvoll gewesen, die letzte und damit "vollständigste" dieser in der
Tat selten gewordenen aber keineswegs verschwundenen Auflagen - die
oben aufgeführten waren ohne Probleme im Leihverkehr erhältlich -
nachzudrucken.
(zurück)
- [2]
- Bei den folgenden Seitenangaben handelt es sich um die neue
zusätzliche Paginierung der vorliegenden Ausgabe.
(zurück)
- [3]
- Er spielte auch eine Rolle "als Beauftragter eines auf Musik
spezialisierten Kunstraubkommandos - 'Sonderstab Musik' - seit 1940"
(S. 60). Über diesen liegt seit 1996 die englischsprachige
Untersuchung eines Holländers vor, die 1998 in deutscher Übersetzung
erschien und die wegen der zahlreich zitierten und abgebildeten
Dokumente von und über Gerigk, Bötticher u.a. zusätzlich herangezogen
werden sollte: Sonderstab Musik : organisierte Plünderungen in
Westeuropa 1940 - 45 / Willem de Vries. - Köln : Dittrich, 1998. - 380
S. : Ill. - ISBN 3-920862-18-X : DM 16.80 (Sonderpreis).
(zurück)
- [4]
- Als Beispiel sei aus einem mittellangen Artikel über Curt Goldmann
zitiert: "* Berlin 24. 7. 1870 gewissenlos und schnell schreibender
Komp. und Bearb. von Musik aller Gattungen. Seine 30 (!!!) Ps. lauten:
... Goldmann begann seine Komponisten-Laufbahn mit Synagogen-Gesängen
..., ging jedoch bald zu der einträglicheren Schlagerfabrikation über
..." (S. 228 - 229).
(zurück)
- [5]
- An der Sorgfalt der Herausgeberin kommen einem Zweifel, wenn man
auf S. 412 ihres Nekrologs den Eintrag Paula Salomon prüft: "geb. am
21.12.1897 in Frankenthal (Pfalz), verschollen in Auschwitz; Sängerin,
lebte in Berlin, Tiergarten, Alt-Moabit 106. Transport am 17.5.1943".
Als pauschale Quellen gibt sie an: Gedenkbuch - Opfer der Verfolgung
der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in
Deutschland 1933 - 1945 (1986) [hier Bd. 2, S. 1283] sowie Gedenkbuch
Berlins der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus (1995) [hier S.
1103] mit dem Hinweis der Herausgeberin in der Fußnote auf S. 428
"Hier Geburtsdatum: 21.12.1899, Geburtsort Rogasen (Posen)"; dieses
Geburtsdatum gibt übrigens auch die erstgenannte Quelle an, doch
handelt es sich in beiden Fällen mitnichten um die im Lexikon ... S.
236 - 237 (= S. 303 - 304 des Reprints) aufgeführte "Salomon, Paula,
geb. Levi (Ps. Lindberg, Paula), * Frankenthal i. Pfalz 21.12.1897,
Sgrn [Sängerin], MLn [Musiklehrerin] - Berlin", da diese dank ihrer
Emigration nach Holland 1939 "zusammen mit ihrem Mann ... das
Kriegsende im Untergrund (überlebte). Sie blieb in Holland und lebt
heute [1992] in Amsterdam". Letzteres Zitat, illustriert mit mehreren
Photos aus: Premiere und Progrom : der Jüdische Kulturbund 1933 - 1941
; Texte und Bilder / E. Geisel ; H. M. Broder. - Berlin : Siedler,
1992, S. 171 - 180. - 1992 erschien ihre Autobiographie: Mein
"C'est-la-vie"-Leben : Gespräch über ein langes Leben in einer
bewegten Zeit / Paula Salomon-Lindberg. Aufgezeichnet von Christine
Fischer-Defoy. - Berlin : Verlag Das Arsenal, 1992. - 171 S. : Ill. -
ISBN 3-921810-97-3 : DM 26.80. - Sie verstarb in Amsterdam am
17.04.2000 im Alter von 102 Jahren (Frankfurter Allgemeine. -
00-04-19, S. 52). - Dazu der Kommentar, den Stephen Lehmann,
Philadelphia, abgab, dem der Rez. diesen Hinweis verdankt: "Zu Zeiten,
in denen die Leugnung des Holocaust wieder modisch wird, müßte man
vorsichtiger mit den Fakten umgehen".
(zurück)
- [6]
- Der Leser hätte sich präzise Angaben zu den einschlägigen Behörden,
ihren Namen, Funktionen und Leitern gewünscht, zumal die Verfasserin
deren Akten, soweit sie erhalten sind, eingesehen hat.
(zurück)
Zurück an den Bildanfang