Sind schon die Vorlesungsverzeichnisse des 19. und 20. Jahrhunderts nicht so vollständig wie wünschenswert archiviert, gibt es bei den schmalen, nur wenige Seiten umfassenden "Catalogi Praelectionum" der Frühen Neuzeit erst recht empfindliche Lücken. Zwar hatten Wilhelm Erman und Ewald Horn schon vor fast hundert Jahren einschlägige Bestände in ihrer monumentalen Bibliographie der deutschen Universitäten[1] nachgewiesen, doch waren die dortigen Besitznachweise durch die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs in vielen Fällen nicht mehr aktuell.
Konrad Schröder[2] und Horst Walter Blanke, letzterer vor allem durch
die Berücksichtigung der in zeitgenössischen Periodika publizierten
Lektionskataloge,[3] machten sich in der Folgezeit um die
bibliographische Erfassung der selten gewordenen Hochschulschriften
verdient.
Für die Königsberger Albertus-Universität ist die Problematik der
zerstörten und zerstreuten literarischen Überlieferung besonders
virulent, wurden doch 1944/45 mit der Stadt auch die Universität, die
Staats- und Universitäts- sowie die Stadtbibliothek weitgehend
zerstört. Ausgelagerte Bestände gelangten später in polnische,
litauische und russische Bibliotheken, besonders in die
Universitätsbibliothek Thorn, die Nationalbibliotheken in Warschau und
Wilna sowie in die Akademiebibliotheken in St. Petersburg und Wilna.
Erst nach der Öffnung des ehemaligen Ostblocks konnten sich Forscher
einen detaillierten Überblick über die geretteten Königsberger Schätze
verschaffen.
So entstand die hier anzuzeigende Edition Königsberger
Vorlesungsverzeichnisse 1720 - 1804 auf der Basis einer einschlägigen
Sammlung des Königsberger Bibliothekars, Landeshistorikers und
Kantforschers Rudolf Reicke (1825 - 1905), die über die
Stadtbibliothek Königsberg (Signatur: Q 58.2ø) nach 1945 in die
Warschauer Biblioteka Narodowa gelangt war (Signaturen : XVIII.3.11061
- 11090 und 12279). Riccardo Pozzo, ebenfalls Kantexperte, entdeckte
sie dort wieder, fand weitere Rara in Thorn und Allenstein, konnte
aber noch keine vollständige Sammlung für die Jahre 1720 bis 1804
zusammenstellen.[4] Vermutlich ist die Suche nach noch fehlenden
Jahrgängen der Grund für die immer wieder verzögerte Publikation des
jahrelang angekündigten Werks.[5] Erst die beiden aus der Königsberger
Staats- und Universitätsbibliothek stammenden, heute im Geheimen
Staatsarchiv in Berlin aufbewahrten Sammelbände (Signaturen : Q 26 2øz
und Tl3 Fol. Gh) ermöglichten eine lückenlose Dokumentation.
Die Geschichte der Königsberger Albertina im 18. Jahrhundert ist
natürlich sehr eng mit der Person ihres berühmtesten Dozenten,
Immanuel Kant, verbunden. So erstaunt es nicht, daß gerade die
Kantforschung immer wieder die Frage nach Königsberger
Vorlesungsverzeichnissen der Ära Kant gestellt, diese auch schon
mehrfach ausgewertet hat und letztlich auch der Ausgangspunkt der
Edition von Oberhausen und Pozzo war. Nach einer ausführlichen
Einleitung, in der die Bedeutung der Vorlesungsverzeichnisse für die
Geschichte der philosophischen Fakultät besonders herausgearbeitet
wird, präsentieren die beiden Herausgeber verkleinerte Nachdrucke der
ursprünglich im Folioformat gedruckten, nach Fakultäten gegliederten
Lektionskataloge. Die bis 1770 dreiseitigen Verzeichnisse erscheinen
ohne Titelblatt. Dafür werden ausgewählte Titelblätter abgedruckt. Ab
dem Wintersemester 1770/71 präsentierten sich die
Vorlesungsverzeichnisse in erweiterter, nunmehr meist siebenseitiger
Form. Sie enthielten jetzt zusätzlich auch die Ankündigungen der
übrigen Universitätsangehörigen wie Sprach-, Fecht- oder Tanzmeister.
Erschlossen wird die Edition durch ein Register der in den Vorlesungen
behandelten Bücher der Bibel, der Lehrpersonen mit ihren Lebensdaten[6]
und, besonders wertvoll, der genannten Personen, Autoren, Werke und
Handbücher. Letzteres ermöglicht einen tiefen Einblick in die für die
akademische Lehre benutzte Literatur.
Genau dies ist ein gewichtiges Argument für den Nachdruck von
zweihundert und mehr Jahre alten Vorlesungsverzeichnissen, lassen sich
doch hier wie sonst nirgendwo die Inhalte des gelehrten Unterrichts im
Detail rekonstruieren, wird beantwortet, was wo zu welcher Zeit
gelehrt oder auch nicht gelehrt wurde, ermöglichen die
Lektionskataloge präzise Aussagen darüber, welche Ideen, wo zuerst, wo
später oder wo auch gar nicht rezipiert wurden. So erstaunt es wenig,
daß mittlerweile eine Reihe von Disziplinen auf diese Quellengattung
zurückgegriffen haben,[7] auch wenn deren kleinere Schwächen wie
Ungenauigkeit oder ausgefallene Lehrveranstaltungen nicht zu leugnen
sind.
Im Falle Königsberg spricht sicher vieles für den Schwerpunkt auf der
Epoche der Aufklärung und Immanuel Kants. Gedruckte
Vorlesungsverzeichnisse gab es an der Albertina aber schon ab 1635,[8]
die, sofern heute noch verfügbar, von ganz ähnlicher Bedeutung für die
Rekonstruktion des akademischen Unterrichts des 17. und beginnenden
18. Jahrhunderts wären. Dort würde sich unter anderem die lange
Dominanz des Aristotelismus und der fast völlig fehlende Einfluß des
Cartesianismus in Königsberg zeigen.
Zusammen mit anderen Hochschulschriften wie Dissertationen, Reden,
Programmen sind Vorlesungsverzeichnisse wichtige Quellen der
frühneuzeitlichen Universitäts-, Wissenschafts- und
Bildungsgeschichte. Die neue Reihe des Verlages Frommann-Holzboog
bietet ein ideales Forum für derartige Publikationen und man möchte
hoffen, daß dort in den beiden Unterreihen zahlreiche Editionen von
weiteren alten Vorlesungsverzeichnissen, Matrikeln, Senatsprotokollen,
Dissertationenverzeichnissen und Spezialuntersuchungen herauskommen.
Manfred Komorowski
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