Das Verzeichnis der Märchentypen von Antti Aarne,[2] Keimzelle aller
Märchenindizes, wurde 1910 veröffentlicht und in der englischen, um
ein Vielfaches erweiterten Fassung von Stith Thompson (1928) zur
internationalen "Märchenbibel".[3] Eine regionale Fassung für den
deutschsprachigen Raum fehlte, sie liegt jetzt vor und läßt kaum
Wünsche offen. Röth hat keine Übersetzung des Aarne/Thompson (ATh)
geliefert, sondern sich auf das Herzstück des Materials, die
Zauber- und Novellenmärchen (ATh 300 - 725 und 850 - 981) beschränkt
und alle
Randbereiche ausgeklammert. Die rund 200 berücksichtigten Märchen hat
er mit beeindruckender Gründlichkeit und bewundernswerter
Materialkenntnis durchgearbeitet, die Zuordnung aller Varianten neu
bestimmt und gegenüber Thompson teilweise geändert. Professionalität
und Sachkenntnis des Herausgebers der seit 1951 erscheinenden
Märchenreihe Das Gesicht der Völker sind unverkennbar.
- Materialgrundlage bilden etwa 95 Anthologien mit 6000 Texten der
europäischen Überlieferung, die in vier deutschsprachigen
Märchenreihen publiziert wurden; die Quellentexte sind also praktisch
in jeder Bibliothek nachzuschlagen - ein Vorteil, der sich gar nicht
überschätzen läßt.[4] Zugrunde liegt damit ein Quellenkorpus, das der
professionellen Betrachtung genügt, aber auch demjenigen zugängliches
Material an die Hand gibt, dessen Märcheninteresse weniger
wissenschaftlich bestimmt ist. Röths Typenverzeichnis ist ein
Regionalindex für den europäischen Raum und kann aufgrund seiner
Quellen nur das im deutschsprachigen Bereich rezipierte Material
umfassen. Der Verfasser erklärt, er wolle berechtigte Kritiken an den
Aarne-Thompsonschen Typisierungsprinzipien mit seinem Buch nicht durch
einsichtigere Ordnungen oder grundlegende Änderungen ersetzen - die
fällige Revision des Grundwerks könne nur durch ein internationales
Gremium erfolgen.[5] Er folgt damit den meisten regionalen
Verzeichnissen, die, wenn sie das System ATh beibehalten, das
Grundwerk für einzelne Kulturen, Völker, geographische Bereiche
ergänzen, mit ihm gemeinsam benutzt werden können und überwiegend in
der Reihe Folklore Fellows communications (FFC) versammelt sind.
Das für den internationalen Vergleich gedachte Typenverzeichnis ATh
stützte sich zunächst nur auf mittel- und nordeuropäische Texte: die
Kinder- und Hausmärchen (KHM) der Brüder Grimm, die dänische Sammlung
Svend Grundtvigs, das Material der finnischen Literaturgesellschaft.
Aarne empfand die Quellenlage als unbefriedigend; zwei Jahre nach dem
"Typenverzeichnis" veröffentlichte er eine Konkordanz seiner
Klassifikation zu russischen, sizilianischen und griechischen
Sammlungen.[6] Der Vorwurf des Eurozentrismus blieb auch der
Thompsonschen Bearbeitung erhalten, obgleich die Quellenbasis
wesentlich verbreitert wurde; aber außereuropäische Texte lassen sich
oft schwer oder gar nicht nach ATh klassifizieren. So sind etwa die
Verzeichnisse der Märchentypen Chinas, der Türkei, Madagaskars und
Koreas nach eigenen Systemen angelegt, die sich denn auch der
internationalen Vergleichbarkeit weitgehend entziehen und in denen die
Gattungsgrenzen des Märchens häufig überschritten werden.[7]
Für die Anlage des deutschsprachigen Typenverzeichnisses stellt dieses
Manko eher eine Erleichterung dar, insofern die Aarne-Thompsonsche
Ordnung dem Material grundsätzlich entspricht. Neugliederungen an
Einzelstellen gegenüber ATh sind trotzdem immer wieder zu finden (ein
Beispiel für alle: ATh 400 ff.). Doch liegen die Hauptprobleme in der
Strukturanalyse des einzelnen Märchentyps und in der Zuordnung der
Varianten, manchmal im Gegensatz zur Quelle und zu vorliegenden
Nachweisen des jeweiligen Typs. Die Quellen konnten nicht einfach
verzettelt und früher vergebene Systemstellen übernommen werden. "Eine
nicht geringe Anzahl von Typbestimmungen" in den Quellen sei "nicht
völlig zuverlässig", schreibt Röth vorsichtig. "Für mich ergab sich
daher die Notwendigkeit, jede einzelne Variante vor Übernahme in den
Katalogtext nochmals (zumindest quer) zu überlesen - bei mehr als 6000
Varianten insgesamt ein etwas mühsames, aber nicht zu umgehendes
Unterfangen".[8] Nun sind Märchen keine einfach zu klassifizierenden
Texte; sie bestehen aus wechselnden Motivketten, die untereinander je
nach Überlieferungslage Verbindungen eingehen und wieder lösen, und
wie bei der bibliothekarischen Klassifikation muß die augenfällige
Zuschreibung nicht immer die richtige sein. Eine genauere Durchsicht
des Bandes ergibt, daß Röth nicht nur seine Quellentexte auf ihre
Zuordnung geprüft hat, sondern überhaupt alle erwähnten Varianten
(z.B. die Zuordnung von "Blaubart"-Varianten, ATh 312, in Kurt Rankes
Schleswig-Holsteinischen Volksmärchen).
Röth hat den Auftrag für sein Buch von der Märchenstiftung Walter Kahn
erhalten, einer privaten Einrichtung, der es wesentlich zu danken ist,
daß das ernsthafte Interesse an der Volkserzählung in Deutschland
nicht auf den Universitätsbereich beschränkt bleibt. Der Märchenboom
im psychologischen und esoterischen Bereich und die Vermarktung des
Märchens in den Kindermedien gaukeln dem Betrachter auf den ersten
Blick ein Bild von blühenden Märchenlandschaften vor, das auf den
zweiten kritischer gesehen werden müßte. Röth und seinen Auftraggebern
geht es deshalb auch darum, "fachlich ungeschulten Märchenfreunden ein
Arbeitsinstrument zu bieten, sich in dem reichen, schier
unübersichtlichen Erzählmaterial wenigstens ansatzweise
zurechtzufinden".[9] "Wichtig ist, daß jeder, der sich mit einer
Märchenfassung beschäftigt, über die Typennummer Zugang zu Varianten
findet, die ihm erst eigentlich die Augen öffnen, was das Märchen
sagen will. Und wichtig ist auch, daß die Benutzer überhaupt
Märchentypen erkennen, da allzuoft Motive mit Typen verwechselt werden
und dadurch unzureichende, ja falsche Zuschreibungen erfolgen."[10]
Diesem Ziel dient nicht zuletzt das kaum je versagende
Schlagwortregister des Bandes, dessen Gebrauchsfähigkeit komplizierter
angelegte Registersysteme, für die es in der Märchenliteratur eine
Reihe von Beispielen gibt, mühelos aus dem Felde schlägt; Stichwörter
aus den Märchentiteln in den Quellen verweisen zusätzlich zu frei
gewählten Sachschlagwörtern nicht auf Seitenzahlen, sondern auf die
Nummer des Märchentyps. Das gab es bisher im deutschsprachigen Bereich
so einfach zugänglich noch nicht und ist auch für Sachkenner eine
wesentliche Arbeitserleichterung.
Unser Autor hat auch ein Problem der Lösung nähergebracht, das im
Zusammenhang mit dem Vorwurf des Eurozentrismus steht und dessen
Lösung in der Enzyklopädie des Märchens (EM) ebensowenig befriedigt
wie in Walter Scherfs Märchenlexikon.[11] Gemeint ist die Bezeichnung
einzelner Märchentypen. Der Rezensent hat in der gerade zitierten
Rezension der Hoffnung Ausdruck gegeben, Röths Typenkatalog werde zur
normierten Ansetzung von Typenbezeichnungen führen; der Verfasser hat
sich in der Tat nicht der oft problematischen Namengebung Scherfs
angeschlossen, sondern die wohlbekannten KHM-Benennungen wieder
aufgegriffen (es gibt wieder Hänsel und Gretel statt Die Kinder bei
der Mästhexe, Rotkäppchen statt Das Mädchen und der Freßdämon im Hause
der Großmutter und Schneewittchen statt Die von der Stiefmutter
verfolgte Tochter findet Zuflucht bei einer Bande junger Männer). Der
deutschsprachige Regionalkatalog darf sich, könnte man sagen, auch die
überlieferten Bezeichnungen leisten - daß es gute Gründe gibt, in
einzelnen Fällen davon abzuweichen, sei unbestritten, und so kann man
sich mit der Jungfrau im Turm (gemäß EM als Übersetzung von The maiden
in the tower bei ATh) schließlich befreunden (bei Scherf: Das
Petersilienmädchen und die Dämoninnen). Wo eine geänderte
Typeneinteilung zusätzliche oder geänderte Benennungen nötig macht,
fällt die Rücksicht auf, mit der sie dem überlieferten Sprachgebaren
eingepaßt werden. Soweit die Titel nicht die überlieferten deutschen
sind, entsprechen sie in der Regel den Ansetzungen der EM oder werden
bei Waldemar Liungman (Die schwedischen Volksmärchen, 1961) gefunden
(z.B. ATh 852: EM - Lügenwette, Redekampf mit der Prinzessin; Röth und
Liungman - Das ist eine Lüge).
Ein Nachschlagewerk erster Güte. Wie er früher ohne dieses ausgekommen
ist, weiß auch der Rezensent nicht.
Willi Höfig
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