Der Textband Das gemeinsame Haus Europa bezeichnet sich zwar im Untertitel als Handbuch, vermag diesen Anspruch jedoch allenfalls vom thematischen Umfang her einzulösen. Zum Thema Europa sind hier auf gut 1200 Seiten knapp 130 Beiträge von z.T. namhaften Beiträgern aus den Gebieten Ethnologie, Volkskunde, Kunst, Geographie, Philosophie, Geschichte, Politologie und Soziologie versammelt. So bekommt man ein sehr breites kulturgeschichtliches Bild dieses geographischen Raumes. Da derselbe allerdings seit der frühen Neuzeit der übrigen Welt nicht nur den politischen, sondern auch den kulturellen Stempel aufgedrückt hat, fragt man sich bei vielen Themen, worin denn konkret der Bezug zu Europa besteht, da meist allgemeine Phänomene abgehandelt werden, z.B. dann, wenn es um die Geschichte des Massensports oder um den Tourismus geht.
Jedenfalls würde zu einem Handbuch nicht nur die breite Abhandlung des Themas gehören, sondern auch eine besondere Erschließung, die neben einem gut strukturierten Überblick auch einen punktuellen Zugriff auf Themen ermöglichen müßte. In dieser Hinsicht hat der Band nichts zu bieten, da auf Register und gute Strukturierung der Artikel ganz verzichtet wurde. Daher wäre es besser, man griffe bei Sachfragen zu den richtigen Handbüchern der einzelnen Themengebiete, anstatt sich darauf zu verlassen, in den Überblicksartikeln dieses Sammelbandes etwas Spezifisches zu finden, zumal auf die Aufführung von weiterführender Literatur zugunsten der im folgenden besprochenen Bibliographie verzichtet wurde.
Die Bibliographie Das gemeinsame Haus : Fundgrube Europa, die die Literatur zu den beiden Textbänden verzeichnet und darüber hinaus noch weitere Literaturangaben enthält, ist notwendigerweise thematisch ebenso breit gefaßt. Daraus zieht der Herausgeber im Vorwort den Schluß, daß hiermit "derzeit die wohl vielseitigste und aktuellste kulturgeschichtliche Bibliographie zu Europa, ..." entstanden sei. Wahrhaft ein hoher Anspruch!
Die Bibliographie enthält zunächst ein 80seitiges Themenregister, das dieselbe Struktur wie der besprochene Textband hat und innerhalb dieser Struktur die Beiträger beider Textbände samt Titel des betreffenden Aufsatzes nennt. Hier wird dann die Literatur zum betreffenden Aufsatz in Kurzform (Name, Erscheinungsjahr) aufgeführt. Diese kurzen Notate verweisen auf den folgenden zweiten, 345 Seiten umfassenden Teil, Gesamtbibliographie genannt. Laut Vorwort enthält diese jedoch mehr Titel als die Literaturangaben der Aufsätze, so daß das Themenregister nur einen nicht näher bezifferten Teil der Gesamtbibliographie erschließt. Wollte man also die Literatur zu einem Thema anhand dieser Bibliographie möglichst vollständig ermitteln, so wäre man gezwungen, neben dem systematisch geordneten Themenregister sämtliche Titel der Gesamtbibliographie durchzusehen: ein überaus ineffizientes Erschliessungskonzept, das den Leser Zeit kostet oder die Suche aufgeben läßt.
Was den Inhalt betrifft, so wurde oben bereits auf die ungewöhnlich
breite Anlage der Bibliographie hingewiesen. Jedoch zeigt sich bei
näherem Hinsehen, daß nicht alle relevanten Titel aufgenommen wurden.
Offensichtlich haben die Autoren hier nicht alles genannt und auch
beim Nachrecherchieren wurden diese Lücken nicht geschlossen. Einige
Beispiele: Im Gebiet der Volkskunde wurden nur Werke aufgenommen, die
der konservativeren Richtung dieses Faches zuzurechnen sind. Die
- wenn schon nicht bahnbrechenden, so doch auf jeden Fall
beachtenswerten - Studien zur Dorfkultur[1] der Tübinger "Empirischen
Kulturwissenschaft" sind nicht aufgenommen worden. Autoren dieser
"Schule" der zeitgenössischen Volkskunde sind lediglich mit Arbeiten
vertreten, die in den konservativen "Kanon" passen. Sonderbar, daß man
sich einerseits interdisziplinär gibt, andererseits unbeliebte
Richtungen des eigenen Faches ausgrenzt. Aber es wurden auch Titel
nicht aufgenommen, die dem "Kanon" entsprechen: So fehlt z.B. bei der
Geräteforschung die bahnbrechende Studie von Fél/Hofer[2] über die
Gerätekultur eines ungarischen Dorfes. In dem Einführungswerk
Grundzüge der Volkskunde[3] beispielsweise ist das Werk in der Literatur
aufgeführt. - Wen wundert es, wenn sich auch in anderen Fachgebieten
dasselbe Bild ergibt? Wo man hinschaut, fragt man sich, warum jene
Monographie aufgenommen wurde, jene aber nicht, dieser Autor, jener
nicht. Ebenso, wenn man nur auf die Sprachen achtet: Die deutschen
Titel überwiegen bei weitem, englische und französische Titel sind
immerhin in nennenswerter Zahl aufgeführt, spanische und italienische
kaum zu finden, von anderen Sprachen ganz zu schweigen. Haben vor
allem Deutsche zu Europa gearbeitet? Insgesamt zeigt sich so ein Bild
der Unausgewogenheit, wenn nicht gar Beliebigkeit, das um so schwerer
wiegt, als die Kriterien für die Aufnahme eines Titels in diese
Bibliographie nirgends genannt sind.
Der im Vorwort formulierte hohe Anspruch ist weder inhaltlich noch von
der Erschließung her eingelöst. Eine Beschaffung der Bibliographie
empfiehlt sich nur, wenn es um Vollständigkeit des
kulturgeschichtlichen, völker- oder volkskundlichen Bestandes geht.
Der Sammelband hingegen ist breiter zu empfehlen, da die Lektüre sehr
anregend ist, aber auch hier ist von einer vorrangigen Beschaffung
(gar für den Informationsbestand) abzuraten, da dieselben Inhalte auch
in anderen kulturgeschichtlichen Werken zu finden sind.
Jürgen Plieninger
Zurück an den Bildanfang