In der Entwicklung der beiden Privatsammlungen tritt mit dem Tod von Marx im März 1883 eine entscheidende Zäsur ein. Engels, der 1870 seine aktive Teilhaberschaft an der Spinnerei Ermen & Engels in Manchester aufgegeben und sich als Privatier in London niedergelassen hat, um so vor Ort Marx finanziell und arbeitstechnisch zu unterstützen, kann nur etwa die Hälfte des nachgelassenen Buchbestands in seiner Wohnung unterbringen. Die andere Hälfte wird nach Absprache mit Eleanor Marx auf den engeren Familien- und Freundeskreis verteilt. Laura Marx in Paris erhält eine Sammlung zur Geschichte der Französischen Revolution und ein Literaturkonvolut, in dem sich auch die Serie der Old English dramatists befindet, die Marx mit seinen Töchtern gelesen hat. Die russischsprachigen Bücher, die er ein Jahr vor seinem Tod in der Liste Russisches in my bookstall zusammengestellt hat, werden mit Ausnahme der annotireten Exemplare Petr L.Lavrov, dem Mitstreiter in der Internationalen Arbeiterassociation, anvertraut. An Samuel Moore, der Engels beim Übersetzen unterstützt, geht eine Serie der parlamentarischen Blue books, und Eduard Bernstein, der aus dem Zürcher Exil den Vorwärts dirigiert, wird mit einer Vielzahl nützlicher Lexika und dem Redaktionsexemplar der Neuen rheinischen Zeitung versorgt. Was an Populärem übrigbleibt, vermacht Engels dem Londoner Communistischen-Arbeiter-Bildungsverein. Die Einzelheiten der Transaktionen beleuchtet Hans-Peter Harstick in der Einführung zum AV in sorgfältig recherchiertem Detail (S. 44 - 45).
Zur gleichen Zeit beginnt Engels damit, die übernommenen Bücher in seinen Bestand einzuarbeiten. "Nous [...] sommes en train d'amalgamer les deux bibliothèques et de les ranger", schreibt er am 15. März 1884 an Lavrov (S. 46). Bei dieser Verschmelzung bleibt es bis zur testamentarischen Verfügung vom 29. Juni 1893, in der er die beiden Parteivorsitzenden August Bebel und Paul Singer als Erben seiner sämtlichen Bücher einsetzt. Engels glaubt, so den Erhalt der Allianzbibliothek am besten sichern zu können - "to keep it together, and to place it at the same time at the disposal of those desirous to use it" (S. 54). Nur zweieinhalb Monate nach dem Tode Engels' trafen in Berlin 27 Bücherkisten ein. Ihr weiterer Weg stand freilich unter keinem guten Stern.
Über die Genese des Marxschen Buchbesitzes sind wir aufgrund der
dokumentarischen Quellenlage besser informiert als über die
Entwicklung des Engelsschen Pendants. In einem 1844 begonnenen
Notizheft hat Marx die 123 Bücher verzeichnet, die er seit seinen
Studienjahren erwerben konnte (die erste Seite mit den Titeln 1 - 22
ist verschollen). Aus diesem Bestand werden im AV immerhin noch 31
Titel nachgewiesen. Sämtliche Titel tauchen sechs Jahre später in der
sogenannten Daniels-Liste wieder auf. Von der Ausweisung aus Preußen
bedroht, gibt Marx im Mai 1849 seine inwischen auf 800 Bände
angewachsene Bibliothek in die Hände des Kölner Freundes Roland
Daniels, der sie kurz vor seiner eigenen Verhaftung in den Kellern der
Weingroßhandlung seines Bruders in Sicherheit bringt. Im Spätherbst
1850 fertigt Daniels ein Inventar des Bestands an, das neben 400
Einzeltiteln auch "eine Menge französischer Romane" als Konvolut
erfaßt. Erst im Februar 1861 entdeckt Marx beim Auspacken der
Bücherkisten, daß Daniels (der 1855 an den Folgen der
Untersuchungshaft gestorben ist) eine beträchtliche Zahl wertvoller
Werke verkauft hat: die vierzigbändige Goethe-Ausgabe letzter Hand,
"den ganzen Fourier", die unentbehrlichen 'Économistes du 18e siècle'
sowie etliche Bände aus der Metzler-Serie Griechische Prosaiker in
neuen Übersetzungen.[2] Seiner Wut über diese "Sau-Büchergeschichte"
läßt er in einem Brief an Engels freien Lauf (S. 29 - 30).
Die zwölfjährige Trennung von seiner Privatbibliothek vermag Marx zu
kompensieren, indem er sich als Benutzer der Bibliothek des British
Museum einschreiben läßt. Er zählt bekanntlich zu dem Kreis der
gelehrten Dauerleser, die von dem Neubau des Kuppellesesaals und dem
rasanten Ausbau der Bestände zu einer modernen Universalbibliothek
unter dem Direktorat von Antonio Panizze profitiert haben. Den Ertrag
seiner langjährigen Lektüre insbesondere in den Gebieten der
Nationalökonomie und der Naturwissenschaften hat er in annähernd 250
Exzerptheften festgehalten, deren Edition in der Vierten Abteilung der
MEGA noch nicht sehr weit gediehen ist.
Um seinen Status als Benutzer nicht zu gefährden, muß Marx mit den
Büchern des British Museum sorgsam umgehen. In seinen eigenen
Exemplaren hat er dagegen mit Feder und Stift geradezu gewütet. In
ständigem Dialog mit dem Lesetext notiert er auf allen freien Rändern
der Kolumnen in seimem typischen Sprachengemisch Lob und Tadel,
hämischen Spott, derbe Witze, schroffe Abweisung gegnerischer
Argumente. Überdies entwickelt er ein System von Merkzeichen, für das
er bis zu sechs verschiedenfarbige Bleistifte verwendet. Engels ist
dagegen ein disziplinierter Leser, der in seinen Marginalien mit
ruhiger Hand Faktisches und kritisch Überprüftes notiert. Häufig genug
beläßt er es bei Randstrichen, und ebenso auffällig ist sein Faible
für 'Eselsohren'. Die Bearbeiter des AV haben daher mit gutem Recht
bei der Auswahl der Abbildungen den optisch attraktiveren 'wilden'
Marginalseiten Marxscher Provenienz den Vorzug gegeben. Da Engels und
Marx über Jahre hinweg in einen regen Bücheraustausch standen, stößt
man des öfteren auf ergänzende oder konkurrierende Randnotizen beider
Leser (Abb. auf S. 291).
Zum Umfang und inhaltlichen Zuschnitt der Büchersammlung, die Engels
nach seiner spektakulären Flucht aus Baden über Genua nach London wohl
schon im Frühjahr 1851 aus einem Depot in Brüssel zurückerhalten hat,
gibt es keine Nachrichten. Von den zahllosen literarischen Werken, mit
denen er sich in seinem Frühwerk auseinandergesetzt hat, erfaßt das AV
nur noch einen geringen Rest, den man an einer Hand abzählen kann: ein
Teilbändchen der deutschen Übersetzung von Dickens' Master Humphrey's
clock (Nr. 306), die Einundzwanzig Bogen aus der Schweiz (1843), an
denen Engels mit einem Beitrag beteiligt war (Nr. 360), Theodor Mundts
Roman Madonna (Nr. 929), die von Karl Lachmann besorgte Edition von
Der Nibelunge Not in der Erstausgabe von 1826 (Nr. 949) und eine
literarische Schulanthologie (Nr. 1163). Ähnlich verhält es sich mit
seiner ersten großen Arbeit, der Lage der arbeitenden Klasse in
England. die er "nach eigner Anschauung und authentischen Quellen" (so
der Untertitel der Erstausgabe von 1845) beschrieben hat. Daß im AV
nur noch Alison Archibalds zweibändige Principles of population von
1840 (Nr. 11) auftauchen, ist nicht weiter verwunderlich, da Engels
vielfältige nicht-konventionelle Materialien herangezogen hat. Die
Zuordnung des Titels zur 'Bibliothek Marx' ist problematisch. Nach den
Aufnahmekriterien müßte er Engels zufallen, der das Exemplar vier Jahr
vor Marx exzerpiert und annotiert hat.
Den Vorarbeiten zu Engels' großem Irland-Projekt lassen sich nur noch
zwei Titel, Isaac Butts Land tenure in Irland (Nr. 191) und Gerald
Fitzgibbons The land difficulties of Ireland (Nr. 433) mit Sicherheit
zuordnen. Drei weitere Titel stammen "wahrscheinlich" aus seinem
Besitz (Nr. 133, 190 und 588). Im frühen Stadium des Projekts hatte
Engels indessen schon ein bibliographisches Verzeichnis mit über 150
Titeln und 15 Exzerpthefte angelegt.[3] Die noch ausstehende Edition
dieses Nachlaß-Komplexes wird sicher auch Neues zu seinem Buchbesitz
zutage fördern.
Eine andere Entwicklung nimmt die Militaria-Sammlung, die Engels sich,
bibliographisch beraten durch den ehemaligen preußischen
Artillerieleutnant Joseph Weydemeyer, in den frühen 1850er Jahren
zugelegt hat. Ausgehend von seinen eigenen Erfahrungen in der
pfälzisch-badischen Revolte von 1849 und gestützt auf seine
Spezialbibliothek konnte er sich binnen weniger Jahre als
militärwissenschaftlicher Experte und Publizist etablieren. Auch die
einschlägigen deutschen Fachorgane schätzten die Beiträge des
exilierten Verfassers.
Im Vergleich zu anderen Gelehrtenbibliotheken des 19. Jahrhunderts
nehmen sich die Sammlungen von Marx und Engels eher bescheiden aus.
Aber für Marx waren die Bestände des British Museum der Hauptfundus
seiner Forschungen, und auch Engels wußte die Ressourcen der
Bibliotheken in Manchester und London für seine Arbeiten zu nutzen. Im
Umkreis der MEGA-Edition wird der Umfang der Bibliotheken von Marx und
Engels seit längerem "auf mindestens 2100 Titel in 3200 Bänden
geschätzt" (S. 23). Manfred Neuhaus und Hans-Peter Harstick, die für
die Einführung zum AV verantwortlich zeichnen, scheinen auf den ersten
Blick darüber uneins zu sein, ob sich die geschätzten Zahlen auf den
nach 1883 in Engels' Wohnung untergebrachten Bestand beziehen (S. 20)
oder auf den Umfang beider Bibliotheken vor 1883 (S. 23). Die
Diskrepanz erklärt sich daraus, daß sie auf S. 23 nach alter
Kollektivmanier ohne Zitatnachweis eine Textpassage aus einem 1995
erschienenen Aufsatz Richard Sperls übernommen haben.[4]
Eine Antwort auf die Frage nach den Bestandszahlen hätte aus heutiger
Sicht schon der Transfer der Bücher nach Berlin erbringen müssen.
Fatalerweise wurden aber weder beim Einpacken noch beim Auspacken der
Bände Inventarlisten angelegt. Gegen den Willen des Stifters wurde die
Bibliothek nicht geschlossen aufgestellt, sondern nach und nach in den
bereits 4000 Titel umfassenden Bestand der SPD-Bibliothek
eingearbeitet. Eine angemessene Erschließung der Bibliothek kam erst
nach ihrer Unterbringung in der 1899 von Hugo Heimann gestifteten
'Öffentlichen Bibliothek und Lesehalle' zustande. 1901 wurde die
Arbeiten an einem rund 8000 Nummern umfassenden systematischen Katalog
abgeschlossen, der freilich die russischsprachigen Titel nicht
berücksichtigte. Der maschinenschriftlich angefertigte Katalog wurde
erst 1987 wiederaufgespürt und hat sich seitdem bei der
Identifizierung von Titeln aus dem Besitz von Marx und Engels als
unentbehrlich erwiesen. Bei dem endgültigen Umzug der SPD-Bibliothek
in das Vorwärts-Gebäude in der Lindenstraße im September 1914
verblieben 443 Titel als Leihgabe bei Heimann, darunter 23 aus
Marx-Engelsscher Provenienz, die im Zweiten Weltkrieg vernichtet
worden sind. In der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre erhielt Boris
I. Nikolaevskij, ein Mitarbeiter des MEGA-Planers David B. Rjazanov,
vom SPD-Vorstand die Erlaubnis, die inzwischen auf 16.000 Bände
angewachsene Bibliothek auf Bücher mit Lesespuren von Marx und Engels
durchzusehen. Das Ergebnis seiner Recherchen hat er 1929 in einem
Katalog vorgelegt, der nicht weniger als 1130 einschlägige Titel
erfaßt. Im Sog des Sturzes von Rjazanov fand Nikolaevskijs
Forschungsarbeit lange Zeit keine Beachtung. Erst nach dem Ende der
Stalin-Ära wurden seine bibliographischen Vorarbeiten "zur conditio
sine qua non der nunmehr abgeschlossenen internationalen Sucharbeit"
(S. 65).
Nach dem SPD-Verbot im Juni 1933 verblieb die Parteibibliothek
zunächst in den versiegelten Archivräumen des Vorwärts-Gebäudes. Im
Laufe des folgenden Jahres wanderte sie geschlossen ins Magzin des
Geheimen Preußischen Staatsarchivs in Dahlem. Gegen den Widerstand des
Archivs entscheidet der zuständige Finanzminister 1936, daß die
Preußische Staatsbibliothek, wie beantragt, 6700 Titel übernehmen
darf. Vier Jahre später werden 3618 Titel dem Institut für
Staatsforschung an der Universität Berlin und weitere 1300 Titel dem
Staatswissenschaftich-Statistischen Seminar überlassen.
Auch nach dem Ende des Krieges blieben die zersplitterten Bestände in
Bewegung. Die amerikanischen Behörden haben schon im November 1945 den
in Dahlem aufbewahrten Restbestand im Umfang von etwa 4000
bibliographischen Einheiten an das Archiv der SPD in der Bülowstraße
zurückgegeben. Nach der Gründung der DDR wurde diese Sammlung der beim
ZK der SED angesiedelten Bibliothek des Marx-Engels-Lenin-Instituts
als Grundstock zugeführt. "Wie erst jetzt bekannt wurde" (S. 70),
haben Mitarbeiter des Moskauer IMEL in Zusammenarbeit mit der SMAD in
der Zeit von November 1945 bis Februar 1946 den Bestand der
Staatsbibliothek nach Titeln Marx-Engelsscher Provenienz durchsucht
und über 1000 Bücher aus der SPD-Bibliothek abtransportieren lassen.
Auch die noch ausgelagerten Bestände der Staatsbibliothek wurden vor
Ort durchkämmt, wobei vor allem libri rari und Bücher, die in Moskau
nicht vorhanden waren, als Trophäen willkommen waren. Neuhaus und
Harstick tun sich schwer mit der Bewertung des sowjetischen Beutezugs
und umschreiben ihn als "den nochmaligen Besitzerwechsel jenseits der
Normen des Bürgerlichen Gesetzbuches in Bezug auf den Parteibestand in
der Preußischen Staatsbibliothek (S. 71).[5]
Ausgehend von dem ihnen zugefallenen Dahlemer Restbestand haben Bruno
Kaiser, der Leiter der Bibliothek des Marx-Engels-Lenin-Instituts, und
seine Mitarbeiterin Inge Werchan in den frühen fünfziger Jahren von
neuem die Suche nach Büchern aus dem Besitz von Marx und Engels
aufgenommen. Nach langen Jahren erschien 1967 unter dem Titel Ex
libris Karl Marx und Friedrich Engels der von Werchan erarbeitete und
mit vielen Abbildungen ausgestattete kommentierte Katalog[6] der
aufgespürten Titel (im folgenden abgekürzt W), in dem erstmals als
Anhang die Daniels-Liste abgedruckt wurde. Von vier Titeln im Besitz
des IISG in Amsterdam und weiteren zwei Titeln aus dem Archivio
Feltrinelli (heute im Karl-Marx-Haus Trier) abgesehen, werden in W
nirgends Standorte mitgeteilt. Das hatte seinen guten Grund: Bruno
Kaiser mußte verschweigen, daß von den 504 wiederentdeckten Büchern in
den Jahren von 1953 bis 1961 insgesamt 438 auf Beschluß des ZK der SED
an das Moskauer Institut für Marxismus-Leninismus abgegeben wurden.
Die restlichen Bände verdanken ihr Verbleiben in Berlin der Gnade der
späten Entdeckung. Überdies ist eine aus W ausgeklammerte Sammlung
aufgespürter russischsprachiger Titel, über deren Umfang Neuhaus und
Harstick nichts wissen, dem Moskauer Institut überlassen worden. Da es
in W keinen Hinweis auf die Provenienz der Daniels-Liste gibt, ist zu
vermuten, daß auch dieses wichtige Dokument als sozialistische
Freundesgabe auf den gleichen Weg gebracht worden ist.
Inge Werchan hat in den siebziger und achtziger Jahren ihr
Suchprogramm in Berlin fortgeführt und weitere 300 Titel zutage
gefördert. Nachdem die MEGA-Kommission sich dafür entschieden hatte,
in der Vierten Abteilung neben den Exzerpten und Notizen auch die
Marginalien zu edieren, haben die beiden Parteiinstitute in Berlin und
Moskau, das IISG in Amsterdam und das Karl-Marx-Haus in Trier in einer
konzertierten Aktion die Recherche auf Standorte außerhalb Berlins und
der DDR ausgedehnt. Bis 1995 stieg die Zahl der identifitierten
Exemplare auf etwa 1400 an.[7] Bis zur Drucklegung des AV sind 50 neue
Funde hinzugekommen, so daß der rekonstruierte Bestand jetzt 1450
Titel in etwa 2100 Bänden umfaßt. In einem Werbeprospekt des Verlags
ist von "mehr als 2200 Bänden" die Rede. Die Schätzung der Bandzahlen
ist schon deshalb problematisch, weil im AV viele Kleinschriften (etwa
Pamphlete im Umfang von 2 bis 8 Seiten) verzeichnet sind und ebenso
zahlreiche Separatdrucke aus Zeitschriften und Zeitungen sowie
Rezensionsausrisse wie selbständige Titel behandelt werden.
Während Neuhaus und Harstick die Rekonstruktion als "abgeschlossen"
ansehen (S. 7), hat Sperl 1995 immerhin noch mit "vereinzelten Funden
gerechnet,[8] aus denen, wie schon erwähnt, 50 neue Titel
zusammengekommen sind. Erfahrungsgemäß werden erst mit der Publikation
eines bibliographischen Verzeichnisses die Besitzer weiterer Exemplare
oder die Experten für Addenda und Corrigenda aus der Reserve gelockt.
Es ist sehr unwahrscheinlich, daß nicht ein einziges Buch aus dem
Besitz von Marx und Engels in England verblieben sein soll.
Offensichtlich sind in dieser Richtung keine Recherchen unternommen
worden. Im Mai letzten Jahres ist bei Sotheby's in London ein von Marx
in den frühen 1860er Jahren begonnenes Exzerptheft versteigert
worden,[9] in dem er auch Auszüge aus seinen Exemplaren von Thomas R.
Malthus' Principles of population und William Godwins Political
justice niedergeschrieben hat. Beide Titel sind in der Daniels-Liste
verzeichnet, tauchen aber nicht im AV auf.
Aufs Ganze gesehen ist die vorliegende Fassung des AV noch mit vielen
Unwägbarkeiten behaftet. 392 Titel können nicht mit Sicherheit den
Bibliotheken von Marx und Engels zugeordnet werden und erhalten
deshalb den Vermerk "Wahrscheinlich Bibliothek Marx" (oder Engels).
Zur Beurteilung der wahrscheinlichen Provenienzen hat Richard Sperl
eine Liste indirekter Indizien zusammengestellt (S. 86). Anhand dieser
Kriterien sind vorerst über 300 Titel als Dubiosa ausgeschieden
worden, die noch einmal überprüft werden müssen. In der Praxis der
Katalogarbeit sind jedoch die indirekten Indizien oft sehr weitherzig
ausgelegt worden. Allzu häufig haben ausschließlich "Bestimmte Autoren
und Spezialthemen, für die Marx und Engels ein bestimmtes Interesse
zeigten" (S. 81) den Ausschlag gegeben. Der vierseitige Farbendruck
Standards and flags of all nations (Nr. 1263) wird ohne Nennung von
Indizien der 'Bibliothek Engels' zugeschlagen. Ob Engels tatsächlich
ein ausgeprägteres Faible für Schiffsflaggen als Marx hatte, wird
nicht erläutert. In dem zuletzt erwähnten Exzerptheft hat Marx auch
Auszüge aus seinem Exemplar von T. J. Dunnings Trades' Unions and
strikes (Nr. 346) festgehalten. Der einschränkende Vermerk
"Wahrscheinlich" kann jetzt getilgt werden.
Mit dem Fortschreiten der Edition der Exzerpte und Notizen in der
Vierten Abteilung der MEGA werden noch viele Ergänzungen und
Korrekturen zum AV anfallen. Es wäre deshalb angemessen gewesen, den
Band nicht als "Vorauspublikation", sondern als 'Vorläufiges
annotiertes Verzeichnis' zu bezeichnen. Von seiner Konzeption her
betrachtet ist das AV kein normaler Katalog einer Privatbibliothek,
sondern ein Findbuch und vorläufiger Apparat für die Editoren. Das
zeigt in aller Deutlichleit die Rubrik 'Titel erwähnt', in der
unabhängig davon, welche Ausgabe oder Auflage des Titels Marx und
Engels tatsächlich benutzt, erwähnt oder zitiert haben, stets nur der
Abdruck in der MEGA oder in den MEW nachgewiesen wird. Es macht aber
wenig Sinn, von einer posthumen Carlyle-Sammelausgabe von 1890 (Nr.
206) auf den edierten Text der Erstausgabe der Lage der arbeitenden
Klasse in England zu verweisen, in der Engels ausschließlich das
Carlylesche Pamphlet Chartism seitenweise aus dem Erstdruck von 1840
zitiert. Bei diesem Verfahren treten nicht selten auch
Informationslücken auf. Vom Titeleintrag zu Amalie Struves
Erinnerungen aus den badischen Freiheits-Kämpfen (Nr. 1289) wird auf
die erst posthum veröffentlichte Satire Die großen Männer des Exils
verwiesen, in der Marx die Memoiren in einem Satz abfertigt. Der
Benutzer des AV erfährt aber nicht, warum Marx ein Exemplar mit
Marginalien von der Hand Ferdinand Freiligraths besitzt. Am 18. Juni
1852 bietet Freiligrath brieflich sein Exemplar Marx zur Verwertung in
der Satire an, und nur wenige Tage später hat er es ihm ins Haus
gebracht.[10] Vermutlich hat Marx später vergessen, es zurückzugeben.
Das dem Katalogteil angefügte Autorenverzeichnis (das die Heiligen
Karl und Friedrich ausklammert) ist wenig hilfreich, weil die
Titelnummern nicht mitgeteilt werden. Kein spezialisierter Benutzer
des AV benötigt im übrigen die Information, daß Karl Lachmann ein
"deutscher Philologe", Beaumarchais ein "französischer Schriftsteller"
und Friedrich II. ein "preußischer König" (was ohnehin nicht korrekt
ist) gewesen sei. Sehr nützlich ist dagegen die den Band beschließende
Aufgliederung der verzeichneten Titel nach Wissenschafts- und
Sachgebieten. Wie in der Leipziger Vorwende-Nationalbibliographie
stehen auch hier Marx und Engels an der Spitze. Aber leider hat man
die alte Unsitte beibehalten, sie als siamesische Zwillinge zu
behandeln. Erst beim Aufschlagen des Katalogeintrags erfährt der
Leser, ob das Werk von Marx oder von Engels stammt. Kleinere Versehen[11]
fallen kaum ins Gewicht. Es bleibt jedoch das Geheimnis der
Bandbearbeiter, warum sie Machiavelli gegen den Rest der literarischen
und bibliographischen Welt durchweg als 'Macchiavelli' ansetzen. Und
Ludwig Denecke würde sich wohl im Grabe umdrehen, wenn er lesen müßte,
daß er das annotierte Verzeichnis der "Bibliotheken der Gebrüder
Grimm" (S. 87, Fn. 179) erarbeitet habe.
Horst Meyer
Zurück an den Bildanfang