Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 9(2001) 1
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Die Bibliotheken von Karl Marx und Friedrich Engels


01-1-028
Die Bibliotheken von Karl Marx und Friedrich Engels : annotiertes Verzeichnis des ermittelten Bestandes / bearb. von Hans-Peter Harstick, Richard Sperl und Hanno Strauß. Unter Mitarb. von Gerald Hubmann ... - Berlin : Akademie-Verlag, 1999. - 738 S. : Ill. ; 25 cm. - (Gesamtausgabe : (MEGA) / Karl Marx ; Friedrich Engels : Abt. 4. Exzerpte, Notizen, Marginalien ; 32, Vorauspublikation). - ISBN 3-05-003440-8 : DM 298.00
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In die vom Wechsel zwischen Verlust und Rettung geprägte Geschichte der Privatbibliotheken von Karl Marx und Friedrich Engels sind auch die vielfachen unvollendeten Ansätze zur Rekonstruktion des Buchbesitzes beider Sammler eingebunden. Die politischen Biographien von 'Mohr' und 'General', die Umwälzungen in Deutschland seit 1933 und nicht zuletzt das zähe Ringen um die Rettung der MEGA nach der Wende von 1989 haben dazu beigetragen, daß erst jetzt ein Annotiertes Verzeichnis des ermittelten Bestandes (im folgenden abgekürzt AV) zustandegekommen ist. Der Untertitel stammt vom Titelblatt des 1989 erschienenen Katalogs der Bibliothek der Brüder Grimm;[1] "Bestände" wäre der präzisere Begriff gewesen, da die ermittelten und identifizierten Bücher, Broschüren und Periodika inzwischen auf mehr als zwanzig Standorte im In- und Ausland verteilt sind.

In der Entwicklung der beiden Privatsammlungen tritt mit dem Tod von Marx im März 1883 eine entscheidende Zäsur ein. Engels, der 1870 seine aktive Teilhaberschaft an der Spinnerei Ermen & Engels in Manchester aufgegeben und sich als Privatier in London niedergelassen hat, um so vor Ort Marx finanziell und arbeitstechnisch zu unterstützen, kann nur etwa die Hälfte des nachgelassenen Buchbestands in seiner Wohnung unterbringen. Die andere Hälfte wird nach Absprache mit Eleanor Marx auf den engeren Familien- und Freundeskreis verteilt. Laura Marx in Paris erhält eine Sammlung zur Geschichte der Französischen Revolution und ein Literaturkonvolut, in dem sich auch die Serie der Old English dramatists befindet, die Marx mit seinen Töchtern gelesen hat. Die russischsprachigen Bücher, die er ein Jahr vor seinem Tod in der Liste Russisches in my bookstall zusammengestellt hat, werden mit Ausnahme der annotireten Exemplare Petr L.Lavrov, dem Mitstreiter in der Internationalen Arbeiterassociation, anvertraut. An Samuel Moore, der Engels beim Übersetzen unterstützt, geht eine Serie der parlamentarischen Blue books, und Eduard Bernstein, der aus dem Zürcher Exil den Vorwärts dirigiert, wird mit einer Vielzahl nützlicher Lexika und dem Redaktionsexemplar der Neuen rheinischen Zeitung versorgt. Was an Populärem übrigbleibt, vermacht Engels dem Londoner Communistischen-Arbeiter-Bildungsverein. Die Einzelheiten der Transaktionen beleuchtet Hans-Peter Harstick in der Einführung zum AV in sorgfältig recherchiertem Detail (S. 44 - 45).

Zur gleichen Zeit beginnt Engels damit, die übernommenen Bücher in seinen Bestand einzuarbeiten. "Nous [...] sommes en train d'amalgamer les deux bibliothèques et de les ranger", schreibt er am 15. März 1884 an Lavrov (S. 46). Bei dieser Verschmelzung bleibt es bis zur testamentarischen Verfügung vom 29. Juni 1893, in der er die beiden Parteivorsitzenden August Bebel und Paul Singer als Erben seiner sämtlichen Bücher einsetzt. Engels glaubt, so den Erhalt der Allianzbibliothek am besten sichern zu können - "to keep it together, and to place it at the same time at the disposal of those desirous to use it" (S. 54). Nur zweieinhalb Monate nach dem Tode Engels' trafen in Berlin 27 Bücherkisten ein. Ihr weiterer Weg stand freilich unter keinem guten Stern.

Über die Genese des Marxschen Buchbesitzes sind wir aufgrund der dokumentarischen Quellenlage besser informiert als über die Entwicklung des Engelsschen Pendants. In einem 1844 begonnenen Notizheft hat Marx die 123 Bücher verzeichnet, die er seit seinen Studienjahren erwerben konnte (die erste Seite mit den Titeln 1 - 22 ist verschollen). Aus diesem Bestand werden im AV immerhin noch 31 Titel nachgewiesen. Sämtliche Titel tauchen sechs Jahre später in der sogenannten Daniels-Liste wieder auf. Von der Ausweisung aus Preußen bedroht, gibt Marx im Mai 1849 seine inwischen auf 800 Bände angewachsene Bibliothek in die Hände des Kölner Freundes Roland Daniels, der sie kurz vor seiner eigenen Verhaftung in den Kellern der Weingroßhandlung seines Bruders in Sicherheit bringt. Im Spätherbst 1850 fertigt Daniels ein Inventar des Bestands an, das neben 400 Einzeltiteln auch "eine Menge französischer Romane" als Konvolut erfaßt. Erst im Februar 1861 entdeckt Marx beim Auspacken der Bücherkisten, daß Daniels (der 1855 an den Folgen der Untersuchungshaft gestorben ist) eine beträchtliche Zahl wertvoller Werke verkauft hat: die vierzigbändige Goethe-Ausgabe letzter Hand, "den ganzen Fourier", die unentbehrlichen 'Économistes du 18e siècle' sowie etliche Bände aus der Metzler-Serie Griechische Prosaiker in neuen Übersetzungen.[2] Seiner Wut über diese "Sau-Büchergeschichte" läßt er in einem Brief an Engels freien Lauf (S. 29 - 30).

Die zwölfjährige Trennung von seiner Privatbibliothek vermag Marx zu kompensieren, indem er sich als Benutzer der Bibliothek des British Museum einschreiben läßt. Er zählt bekanntlich zu dem Kreis der gelehrten Dauerleser, die von dem Neubau des Kuppellesesaals und dem rasanten Ausbau der Bestände zu einer modernen Universalbibliothek unter dem Direktorat von Antonio Panizze profitiert haben. Den Ertrag seiner langjährigen Lektüre insbesondere in den Gebieten der Nationalökonomie und der Naturwissenschaften hat er in annähernd 250 Exzerptheften festgehalten, deren Edition in der Vierten Abteilung der MEGA noch nicht sehr weit gediehen ist.

Um seinen Status als Benutzer nicht zu gefährden, muß Marx mit den Büchern des British Museum sorgsam umgehen. In seinen eigenen Exemplaren hat er dagegen mit Feder und Stift geradezu gewütet. In ständigem Dialog mit dem Lesetext notiert er auf allen freien Rändern der Kolumnen in seimem typischen Sprachengemisch Lob und Tadel, hämischen Spott, derbe Witze, schroffe Abweisung gegnerischer Argumente. Überdies entwickelt er ein System von Merkzeichen, für das er bis zu sechs verschiedenfarbige Bleistifte verwendet. Engels ist dagegen ein disziplinierter Leser, der in seinen Marginalien mit ruhiger Hand Faktisches und kritisch Überprüftes notiert. Häufig genug beläßt er es bei Randstrichen, und ebenso auffällig ist sein Faible für 'Eselsohren'. Die Bearbeiter des AV haben daher mit gutem Recht bei der Auswahl der Abbildungen den optisch attraktiveren 'wilden' Marginalseiten Marxscher Provenienz den Vorzug gegeben. Da Engels und Marx über Jahre hinweg in einen regen Bücheraustausch standen, stößt man des öfteren auf ergänzende oder konkurrierende Randnotizen beider Leser (Abb. auf S. 291).

Zum Umfang und inhaltlichen Zuschnitt der Büchersammlung, die Engels nach seiner spektakulären Flucht aus Baden über Genua nach London wohl schon im Frühjahr 1851 aus einem Depot in Brüssel zurückerhalten hat, gibt es keine Nachrichten. Von den zahllosen literarischen Werken, mit denen er sich in seinem Frühwerk auseinandergesetzt hat, erfaßt das AV nur noch einen geringen Rest, den man an einer Hand abzählen kann: ein Teilbändchen der deutschen Übersetzung von Dickens' Master Humphrey's clock (Nr. 306), die Einundzwanzig Bogen aus der Schweiz (1843), an denen Engels mit einem Beitrag beteiligt war (Nr. 360), Theodor Mundts Roman Madonna (Nr. 929), die von Karl Lachmann besorgte Edition von Der Nibelunge Not in der Erstausgabe von 1826 (Nr. 949) und eine literarische Schulanthologie (Nr. 1163). Ähnlich verhält es sich mit seiner ersten großen Arbeit, der Lage der arbeitenden Klasse in England. die er "nach eigner Anschauung und authentischen Quellen" (so der Untertitel der Erstausgabe von 1845) beschrieben hat. Daß im AV nur noch Alison Archibalds zweibändige Principles of population von 1840 (Nr. 11) auftauchen, ist nicht weiter verwunderlich, da Engels vielfältige nicht-konventionelle Materialien herangezogen hat. Die Zuordnung des Titels zur 'Bibliothek Marx' ist problematisch. Nach den Aufnahmekriterien müßte er Engels zufallen, der das Exemplar vier Jahr vor Marx exzerpiert und annotiert hat.

Den Vorarbeiten zu Engels' großem Irland-Projekt lassen sich nur noch zwei Titel, Isaac Butts Land tenure in Irland (Nr. 191) und Gerald Fitzgibbons The land difficulties of Ireland (Nr. 433) mit Sicherheit zuordnen. Drei weitere Titel stammen "wahrscheinlich" aus seinem Besitz (Nr. 133, 190 und 588). Im frühen Stadium des Projekts hatte Engels indessen schon ein bibliographisches Verzeichnis mit über 150 Titeln und 15 Exzerpthefte angelegt.[3] Die noch ausstehende Edition dieses Nachlaß-Komplexes wird sicher auch Neues zu seinem Buchbesitz zutage fördern.

Eine andere Entwicklung nimmt die Militaria-Sammlung, die Engels sich, bibliographisch beraten durch den ehemaligen preußischen Artillerieleutnant Joseph Weydemeyer, in den frühen 1850er Jahren zugelegt hat. Ausgehend von seinen eigenen Erfahrungen in der pfälzisch-badischen Revolte von 1849 und gestützt auf seine Spezialbibliothek konnte er sich binnen weniger Jahre als militärwissenschaftlicher Experte und Publizist etablieren. Auch die einschlägigen deutschen Fachorgane schätzten die Beiträge des exilierten Verfassers.

Im Vergleich zu anderen Gelehrtenbibliotheken des 19. Jahrhunderts nehmen sich die Sammlungen von Marx und Engels eher bescheiden aus. Aber für Marx waren die Bestände des British Museum der Hauptfundus seiner Forschungen, und auch Engels wußte die Ressourcen der Bibliotheken in Manchester und London für seine Arbeiten zu nutzen. Im Umkreis der MEGA-Edition wird der Umfang der Bibliotheken von Marx und Engels seit längerem "auf mindestens 2100 Titel in 3200 Bänden geschätzt" (S. 23). Manfred Neuhaus und Hans-Peter Harstick, die für die Einführung zum AV verantwortlich zeichnen, scheinen auf den ersten Blick darüber uneins zu sein, ob sich die geschätzten Zahlen auf den nach 1883 in Engels' Wohnung untergebrachten Bestand beziehen (S. 20) oder auf den Umfang beider Bibliotheken vor 1883 (S. 23). Die Diskrepanz erklärt sich daraus, daß sie auf S. 23 nach alter Kollektivmanier ohne Zitatnachweis eine Textpassage aus einem 1995 erschienenen Aufsatz Richard Sperls übernommen haben.[4]

Eine Antwort auf die Frage nach den Bestandszahlen hätte aus heutiger Sicht schon der Transfer der Bücher nach Berlin erbringen müssen. Fatalerweise wurden aber weder beim Einpacken noch beim Auspacken der Bände Inventarlisten angelegt. Gegen den Willen des Stifters wurde die Bibliothek nicht geschlossen aufgestellt, sondern nach und nach in den bereits 4000 Titel umfassenden Bestand der SPD-Bibliothek eingearbeitet. Eine angemessene Erschließung der Bibliothek kam erst nach ihrer Unterbringung in der 1899 von Hugo Heimann gestifteten 'Öffentlichen Bibliothek und Lesehalle' zustande. 1901 wurde die Arbeiten an einem rund 8000 Nummern umfassenden systematischen Katalog abgeschlossen, der freilich die russischsprachigen Titel nicht berücksichtigte. Der maschinenschriftlich angefertigte Katalog wurde erst 1987 wiederaufgespürt und hat sich seitdem bei der Identifizierung von Titeln aus dem Besitz von Marx und Engels als unentbehrlich erwiesen. Bei dem endgültigen Umzug der SPD-Bibliothek in das Vorwärts-Gebäude in der Lindenstraße im September 1914 verblieben 443 Titel als Leihgabe bei Heimann, darunter 23 aus Marx-Engelsscher Provenienz, die im Zweiten Weltkrieg vernichtet worden sind. In der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre erhielt Boris I. Nikolaevskij, ein Mitarbeiter des MEGA-Planers David B. Rjazanov, vom SPD-Vorstand die Erlaubnis, die inzwischen auf 16.000 Bände angewachsene Bibliothek auf Bücher mit Lesespuren von Marx und Engels durchzusehen. Das Ergebnis seiner Recherchen hat er 1929 in einem Katalog vorgelegt, der nicht weniger als 1130 einschlägige Titel erfaßt. Im Sog des Sturzes von Rjazanov fand Nikolaevskijs Forschungsarbeit lange Zeit keine Beachtung. Erst nach dem Ende der Stalin-Ära wurden seine bibliographischen Vorarbeiten "zur conditio sine qua non der nunmehr abgeschlossenen internationalen Sucharbeit" (S. 65).

Nach dem SPD-Verbot im Juni 1933 verblieb die Parteibibliothek zunächst in den versiegelten Archivräumen des Vorwärts-Gebäudes. Im Laufe des folgenden Jahres wanderte sie geschlossen ins Magzin des Geheimen Preußischen Staatsarchivs in Dahlem. Gegen den Widerstand des Archivs entscheidet der zuständige Finanzminister 1936, daß die Preußische Staatsbibliothek, wie beantragt, 6700 Titel übernehmen darf. Vier Jahre später werden 3618 Titel dem Institut für Staatsforschung an der Universität Berlin und weitere 1300 Titel dem Staatswissenschaftich-Statistischen Seminar überlassen.

Auch nach dem Ende des Krieges blieben die zersplitterten Bestände in Bewegung. Die amerikanischen Behörden haben schon im November 1945 den in Dahlem aufbewahrten Restbestand im Umfang von etwa 4000 bibliographischen Einheiten an das Archiv der SPD in der Bülowstraße zurückgegeben. Nach der Gründung der DDR wurde diese Sammlung der beim ZK der SED angesiedelten Bibliothek des Marx-Engels-Lenin-Instituts als Grundstock zugeführt. "Wie erst jetzt bekannt wurde" (S. 70), haben Mitarbeiter des Moskauer IMEL in Zusammenarbeit mit der SMAD in der Zeit von November 1945 bis Februar 1946 den Bestand der Staatsbibliothek nach Titeln Marx-Engelsscher Provenienz durchsucht und über 1000 Bücher aus der SPD-Bibliothek abtransportieren lassen. Auch die noch ausgelagerten Bestände der Staatsbibliothek wurden vor Ort durchkämmt, wobei vor allem libri rari und Bücher, die in Moskau nicht vorhanden waren, als Trophäen willkommen waren. Neuhaus und Harstick tun sich schwer mit der Bewertung des sowjetischen Beutezugs und umschreiben ihn als "den nochmaligen Besitzerwechsel jenseits der Normen des Bürgerlichen Gesetzbuches in Bezug auf den Parteibestand in der Preußischen Staatsbibliothek (S. 71).[5]

Ausgehend von dem ihnen zugefallenen Dahlemer Restbestand haben Bruno Kaiser, der Leiter der Bibliothek des Marx-Engels-Lenin-Instituts, und seine Mitarbeiterin Inge Werchan in den frühen fünfziger Jahren von neuem die Suche nach Büchern aus dem Besitz von Marx und Engels aufgenommen. Nach langen Jahren erschien 1967 unter dem Titel Ex libris Karl Marx und Friedrich Engels der von Werchan erarbeitete und mit vielen Abbildungen ausgestattete kommentierte Katalog[6] der aufgespürten Titel (im folgenden abgekürzt W), in dem erstmals als Anhang die Daniels-Liste abgedruckt wurde. Von vier Titeln im Besitz des IISG in Amsterdam und weiteren zwei Titeln aus dem Archivio Feltrinelli (heute im Karl-Marx-Haus Trier) abgesehen, werden in W nirgends Standorte mitgeteilt. Das hatte seinen guten Grund: Bruno Kaiser mußte verschweigen, daß von den 504 wiederentdeckten Büchern in den Jahren von 1953 bis 1961 insgesamt 438 auf Beschluß des ZK der SED an das Moskauer Institut für Marxismus-Leninismus abgegeben wurden. Die restlichen Bände verdanken ihr Verbleiben in Berlin der Gnade der späten Entdeckung. Überdies ist eine aus W ausgeklammerte Sammlung aufgespürter russischsprachiger Titel, über deren Umfang Neuhaus und Harstick nichts wissen, dem Moskauer Institut überlassen worden. Da es in W keinen Hinweis auf die Provenienz der Daniels-Liste gibt, ist zu vermuten, daß auch dieses wichtige Dokument als sozialistische Freundesgabe auf den gleichen Weg gebracht worden ist.

Inge Werchan hat in den siebziger und achtziger Jahren ihr Suchprogramm in Berlin fortgeführt und weitere 300 Titel zutage gefördert. Nachdem die MEGA-Kommission sich dafür entschieden hatte, in der Vierten Abteilung neben den Exzerpten und Notizen auch die Marginalien zu edieren, haben die beiden Parteiinstitute in Berlin und Moskau, das IISG in Amsterdam und das Karl-Marx-Haus in Trier in einer konzertierten Aktion die Recherche auf Standorte außerhalb Berlins und der DDR ausgedehnt. Bis 1995 stieg die Zahl der identifitierten Exemplare auf etwa 1400 an.[7] Bis zur Drucklegung des AV sind 50 neue Funde hinzugekommen, so daß der rekonstruierte Bestand jetzt 1450 Titel in etwa 2100 Bänden umfaßt. In einem Werbeprospekt des Verlags ist von "mehr als 2200 Bänden" die Rede. Die Schätzung der Bandzahlen ist schon deshalb problematisch, weil im AV viele Kleinschriften (etwa Pamphlete im Umfang von 2 bis 8 Seiten) verzeichnet sind und ebenso zahlreiche Separatdrucke aus Zeitschriften und Zeitungen sowie Rezensionsausrisse wie selbständige Titel behandelt werden.

Während Neuhaus und Harstick die Rekonstruktion als "abgeschlossen" ansehen (S. 7), hat Sperl 1995 immerhin noch mit "vereinzelten Funden gerechnet,[8] aus denen, wie schon erwähnt, 50 neue Titel zusammengekommen sind. Erfahrungsgemäß werden erst mit der Publikation eines bibliographischen Verzeichnisses die Besitzer weiterer Exemplare oder die Experten für Addenda und Corrigenda aus der Reserve gelockt. Es ist sehr unwahrscheinlich, daß nicht ein einziges Buch aus dem Besitz von Marx und Engels in England verblieben sein soll. Offensichtlich sind in dieser Richtung keine Recherchen unternommen worden. Im Mai letzten Jahres ist bei Sotheby's in London ein von Marx in den frühen 1860er Jahren begonnenes Exzerptheft versteigert worden,[9] in dem er auch Auszüge aus seinen Exemplaren von Thomas R. Malthus' Principles of population und William Godwins Political justice niedergeschrieben hat. Beide Titel sind in der Daniels-Liste verzeichnet, tauchen aber nicht im AV auf.

Aufs Ganze gesehen ist die vorliegende Fassung des AV noch mit vielen Unwägbarkeiten behaftet. 392 Titel können nicht mit Sicherheit den Bibliotheken von Marx und Engels zugeordnet werden und erhalten deshalb den Vermerk "Wahrscheinlich Bibliothek Marx" (oder Engels). Zur Beurteilung der wahrscheinlichen Provenienzen hat Richard Sperl eine Liste indirekter Indizien zusammengestellt (S. 86). Anhand dieser Kriterien sind vorerst über 300 Titel als Dubiosa ausgeschieden worden, die noch einmal überprüft werden müssen. In der Praxis der Katalogarbeit sind jedoch die indirekten Indizien oft sehr weitherzig ausgelegt worden. Allzu häufig haben ausschließlich "Bestimmte Autoren und Spezialthemen, für die Marx und Engels ein bestimmtes Interesse zeigten" (S. 81) den Ausschlag gegeben. Der vierseitige Farbendruck Standards and flags of all nations (Nr. 1263) wird ohne Nennung von Indizien der 'Bibliothek Engels' zugeschlagen. Ob Engels tatsächlich ein ausgeprägteres Faible für Schiffsflaggen als Marx hatte, wird nicht erläutert. In dem zuletzt erwähnten Exzerptheft hat Marx auch Auszüge aus seinem Exemplar von T. J. Dunnings Trades' Unions and strikes (Nr. 346) festgehalten. Der einschränkende Vermerk "Wahrscheinlich" kann jetzt getilgt werden.

Mit dem Fortschreiten der Edition der Exzerpte und Notizen in der Vierten Abteilung der MEGA werden noch viele Ergänzungen und Korrekturen zum AV anfallen. Es wäre deshalb angemessen gewesen, den Band nicht als "Vorauspublikation", sondern als 'Vorläufiges annotiertes Verzeichnis' zu bezeichnen. Von seiner Konzeption her betrachtet ist das AV kein normaler Katalog einer Privatbibliothek, sondern ein Findbuch und vorläufiger Apparat für die Editoren. Das zeigt in aller Deutlichleit die Rubrik 'Titel erwähnt', in der unabhängig davon, welche Ausgabe oder Auflage des Titels Marx und Engels tatsächlich benutzt, erwähnt oder zitiert haben, stets nur der Abdruck in der MEGA oder in den MEW nachgewiesen wird. Es macht aber wenig Sinn, von einer posthumen Carlyle-Sammelausgabe von 1890 (Nr. 206) auf den edierten Text der Erstausgabe der Lage der arbeitenden Klasse in England zu verweisen, in der Engels ausschließlich das Carlylesche Pamphlet Chartism seitenweise aus dem Erstdruck von 1840 zitiert. Bei diesem Verfahren treten nicht selten auch Informationslücken auf. Vom Titeleintrag zu Amalie Struves Erinnerungen aus den badischen Freiheits-Kämpfen (Nr. 1289) wird auf die erst posthum veröffentlichte Satire Die großen Männer des Exils verwiesen, in der Marx die Memoiren in einem Satz abfertigt. Der Benutzer des AV erfährt aber nicht, warum Marx ein Exemplar mit Marginalien von der Hand Ferdinand Freiligraths besitzt. Am 18. Juni 1852 bietet Freiligrath brieflich sein Exemplar Marx zur Verwertung in der Satire an, und nur wenige Tage später hat er es ihm ins Haus gebracht.[10] Vermutlich hat Marx später vergessen, es zurückzugeben.

Das dem Katalogteil angefügte Autorenverzeichnis (das die Heiligen Karl und Friedrich ausklammert) ist wenig hilfreich, weil die Titelnummern nicht mitgeteilt werden. Kein spezialisierter Benutzer des AV benötigt im übrigen die Information, daß Karl Lachmann ein "deutscher Philologe", Beaumarchais ein "französischer Schriftsteller" und Friedrich II. ein "preußischer König" (was ohnehin nicht korrekt ist) gewesen sei. Sehr nützlich ist dagegen die den Band beschließende Aufgliederung der verzeichneten Titel nach Wissenschafts- und Sachgebieten. Wie in der Leipziger Vorwende-Nationalbibliographie stehen auch hier Marx und Engels an der Spitze. Aber leider hat man die alte Unsitte beibehalten, sie als siamesische Zwillinge zu behandeln. Erst beim Aufschlagen des Katalogeintrags erfährt der Leser, ob das Werk von Marx oder von Engels stammt. Kleinere Versehen[11] fallen kaum ins Gewicht. Es bleibt jedoch das Geheimnis der Bandbearbeiter, warum sie Machiavelli gegen den Rest der literarischen und bibliographischen Welt durchweg als 'Macchiavelli' ansetzen. Und Ludwig Denecke würde sich wohl im Grabe umdrehen, wenn er lesen müßte, daß er das annotierte Verzeichnis der "Bibliotheken der Gebrüder Grimm" (S. 87, Fn. 179) erarbeitet habe.

Horst Meyer


[1]
Die Bibliothek der Brüder Grimm : annotiertes Verzeichnis des festgestellten Bestandes / erarb. von Ludwig Denecke und Irmgard Teitge. Hrsg. von Friedhilde Krause. - Weimar : Böhlau, 1989. - 652 S. : Ill. (zurück)
[2]
Im AV sind aus der Klassiker-Reihe 8 Titel verzeichnet, die sich heute in Privatbesitz befinden. (zurück)
[3]
Friedrich Engels : eine Biographie / von einem Autorenkollektiv. - Frankfurt am Main : Verlag Marxistische Blätter, 1970, S. 309. (zurück)
[4]
Die Marginalien in den Büchern aus den persönlichen Bibliotheken von Marx und Engels : ihr Stellenwert für biographische und wissenschaftsgeschichtliche Forschungen ; Möglichkeiten und Grenzen ihrer Edition / Richard Sperl. // In: Editio. - 8 (1995), S. 140 - 168; hier S. 150. - Im folgenden zitiert als Sperl. (zurück)
[5]
Friedhilde Krause geht in ihrer Besprechung des AV (Marginalien. - H. 160 (2000), S. 81 - 84) stillschweigend über den Bücherraub hinweg. (zurück)
[6]
Ex libris Karl Marx und Friedrich Engels : Schicksal und Verzeichnis einer Bibliothek / [Einl. und Red.: Bruno Kaiser. Katalog und wiss. Apparat: Inge Werchan]. - Berlin : Dietz, 1967. - 228 S. : Ill. (zurück)
[7]
Sperl, S. 154. (zurück)
[8]
Sperl, S. 155. (zurück)
[9]
Vgl. den Vorbericht von H. R. Woudhuysen im Times literary supplement. - 2000-05-19 = Nr. 5068, S. 34. (zurück)
[10]
Freiligraths Briefwechsel mit Marx und Engels / bearb. und eingel. von Manfred Häckel. - 2. unveränd. Aufl. - Berlin : Akademie-Verlag, 1976. - T. 1, S. 50 und 53. (zurück)
[11]
Alfred "Predeck" (S. 83, Fn. 172) hieß Predeek, und statt "Readingroom" (S. 14) sollte man auch im Deutschen ruhig Reading Room schreiben. (zurück)

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