Es war das erklärte Ziel der Autoren, eine Literaturgeschichte zu verfassen, die nicht nur als Nachschlagewerk dient, sondern zur Lektüre ganzer Abschnitte sowie der beschriebenen Originalwerke animiert. Als Literatursoziologe weiß Neuschäfer, daß zum Verständnis der Literatur der gesellschaftliche und politische Hintergrund wichtig ist; Exil, Zensur, Publikum, der Einfluß der Presse, die Rolle des Films nimmt er gleichermaßen in den Blick. Die Auswahl der Primärwerke für die jeweilige Epoche ist repräsentativ, der Ansatz komparatistisch, wenn Vergleiche mit französischen, deutschen und italienischen Autoren herangezogen werden.
Die Darstellung der tausendjährigen Geschichte spanischer Literatur
erfolgt chronologisch, der Herausgeber verfolgt ein traditionelles
Einteilungsprinzip, faßt aber den Literaturbegriff sehr weit und
schließt insbesondere in der Würdigung des 20. Jahrhunderts
Unterhaltungsliteratur, Essayistik, Kino, Journalismus mit ein. Obwohl
ein Sachregister fehlt, wird die Orientierung durch eine dreigestufte
Hierarchie von Überschriften sowie durch Randglossen erleichtert. Das
Photomaterial vom Kreuzgang auf der ersten bis zu den "Frauen am Rande
des Nervenzusammenbruchs" auf der vorletzten Seite[3] vermittelt einen
bildlichen Eindruck der kulturgeschichtlichen Wirklichkeit der
jeweiligen Epoche. Ein Namens- und Werkregister mit Angaben der
Lebensdaten und eine auf knapp 300 Titel beschränkte, nach Epochen
gegliederte Auswahlbibliographie erleichtern den Zugang.
Die Gliederung in die fünf Abschnitte Mittelalter (Manfred Tietz),
Siglo de Oro (Manfred Tietz, Gerhard Poppenberg, Hans-Jörg Neuschäfer
und Sebastian Neumeister), 18. Jahrhundert (Jutta Schütz), 19.
Jahrhundert, 20. Jahrhundert (Hans-Jörg Neuschäfer) entspricht der
klassischen Einteilung. Es konnten Mitautoren gewonnen werden, die
aufgrund ihres eigenen Forschungsinteresses als fachkundige
Spezialisten für die jeweils behandelte Zeit gelten können. "Am
liebsten hätte ich die Literaturgeschichte allein geschrieben", so der
Herausgeber in der Einleitung, und tatsächlich wurden trotz der
Mehrverfasserschaft des Werkes, vielleicht mit Ausnahme des Abschnitts
über das Goldene Zeitalter, unter Neuschäfers redaktionellem Einfluß
Stilsprünge und unterschiedliche literaturwissenschaftliche
Herangehensweisen vermieden, die aufgrund der häufig wechselnden
Federführung einzelner Abschnitte an der von Michael Rössner
herausgegebenen Lateinamerikanischen Literaturgeschichte[4] negativ
aufgefallen waren. Eine Beschränkung auf die spanischsprachige
Literatur unter Verzicht auf die katalanische, baskische, galicische
ist der verlagsseitig vorgegebenen Umfangsbegrenzung geschuldet (vgl.
S. VIII).
Der Leser kann sich die spanische Kultur sowohl anhand der Sachthemen
(Novela picaresca, Costumbrismus) als auch über die Einzeltexte (Don
Quijote, Don Juan, La Regenta) erschließen. Manfred Tietz hat den
Geschichtsbegriff des Spaniens der Mauren, Juden und Christen geklärt
und die literarischen Zeugnisse vom Cantar de Mío Cid bis zur
Celestina konzentriert und übersichtlich vorgeführt. Es war
naheliegend, daß sich Neuschäfer, dessen wissenschaftliches Interesse
schon immer vorzugsweise der spanischen Erzählkunst und ihrer
Umsetzung in andere (mediale) Kunstformen gehörte, das Kapitel über
Cervantes und die Genese des Romans vorbehielt.[5] Die Darstellung
Poppenbergs (Moralistik, Geschichte) ist als zu theoriebefrachtet
kritisiert worden;[6] immerhin ist es ihm und Sebastian Neumeister
(Lyrik) zu verdanken, daß durch die kurzfristige Bereitschaft, die
ursprünglich Manfred Tietz zugedachten Kapitel zu übernehmen, der Band
termingerecht erscheinen konnte.
Die zeitgenössische Auseinandersetzung in der Barockliteratur zwischen
Góngora ("Kulteranist") und den "klaren" Dichtern (Lope de Vega,
Quevedo) wird anschaulich und unparteiisch wiedergegeben. Es ist nicht
den Autoren anzulasten, daß die Konzeption der
Literaturgeschichtsreihe bei Metzler kein Sachregister vorsieht und
nicht mit Verweisungen innerhalb der Bände auf sachverwandte Themen
arbeitet. Im Kapitel Moralistik (Quevedo, S. 95) hätte man
beispielsweise einen Hinweis auf den Abschnitt Barockliteratur
(Quevedo, S. 121) gewünscht, um bei gezieltem Informationsbedürfnis
das Hin- und Herblättern zu erleichtern.
Die Stärke des Bandes liegt neben seiner anschaulichen
Darstellungsweise zweifellos in der geglückten Verknüpfung von
literarischen Würdigungen und sozialgeschichtlichem Umfeld. Dies wird
insbesondere deutlich im Abschnitt über das in Spanien hinsichtlich
seiner literarischen Zeugnisse erst in neuerer Zeit intensiver
beachtete 18. Jahrhundert. Die im Vorwort des Herausgebers erklärte
Übereinkunft der Autoren, den Schwerpunkt auf die moderne Literatur
Spaniens zu legen, die in Deutschland am wenigsten bekannt sei (S.
VIII), schlägt sich im Umfang der Seiten, die dem 20. Jahrhundert
gewidmet sind, nicht nieder. Obwohl Neuschäfers neuere
Forschungsbeiträge[7] gerade der neuesten Entwicklung auf dem spanischen
Buchmarkt gewidmet sind, wurde der Literatur nach 1975 (S. 389 - 402)
bedauerlicherweise weniger Beachtung geschenkt, als in dem oben
erwähnten kurzen Abriß von Martin Franzbach. In keiner anderen
deutschsprachigen Literaturgeschichte wird dem Thema der Zensur, die
bekanntlich nicht nur die Literatur, sondern auch
Theaterinszenierungen und Film beeinflußte, in der Francozeit soviel
Raum gegeben. Literaturverfilmungen der neueren Zeit dokumentieren den
"intermedialen Charakter" der spanischen Gegenwartskultur.[8]
Durch die Beiträge der fünf Autoren schärft sich die Sicht des Lesers
auf Kontinuitäten, Wechselwirkungen und Grenzüberschreitungen
literarischer Zeugnisse. Als Ergänzung zu den eher am studentischen
Bedarf orientierten literaturgeschichtlichen Lehrtexten von Wittschier
und Franzbach ist Neuschäfers Spanische Literaturgeschichte
unverzichtbare wissenschaftliche Grundlagenliteratur.
Regine Schmolling
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