Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 9(2001) 1
[ Bestand in K10plus ]

Spanische Literaturgeschichte


01-1-061
Spanische Literaturgeschichte / unter Mitarb. von Sebastian Neumeister ... hrsg. von Hans-Jörg Neuschäfer. - Stuttgart ; Weimar : Metzler, 1997. - X, 423 S. : Ill. ; 25 cm. - ISBN 3-476-00960-2 : DM 49.80
[3758]

In Hans-Jörg Neuschäfer wurde für die Herausgabe der Spanischen Literaturgeschichte in bewährter Konzeption und Darstellung der Metzlerschen Reihe ein ausgewiesener Kenner der spanischen Kultur gefunden, der zudem über einen bei Wissenschaftlern nicht immer anzutreffenden flüssigen Schreibstil verfügt. Die Spanische Literaturgeschichte ist nicht der erste neuere Versuch, die Geschichte der traditionsreichen spanischen Literatur dem deutschsprachigen Publikum nahezubringen. Martin Franzbach veröffentlichte 1993 bei Reclam eine aktualisierte Fassung seiner Geschichte der spanischen Literatur im Überblick[1] und im selben Jahr erschien eine knappe Einführung u.d.T. Die spanische Literatur als Studienführer von Heinz Willi Wittschier.[2] Dabei dürfte das hierzulande neu erwachte Interesse einer breiten Leserschaft an der spanischen Literatur durch die Publikumserfolge zeitgenössischer Erfolgsautoren wie Javier Marias, Rafael Chirbes, Adelaida Garcia Morales, Vazquez Montalbán und Javier Tomeo begünstigt worden sein.

Es war das erklärte Ziel der Autoren, eine Literaturgeschichte zu verfassen, die nicht nur als Nachschlagewerk dient, sondern zur Lektüre ganzer Abschnitte sowie der beschriebenen Originalwerke animiert. Als Literatursoziologe weiß Neuschäfer, daß zum Verständnis der Literatur der gesellschaftliche und politische Hintergrund wichtig ist; Exil, Zensur, Publikum, der Einfluß der Presse, die Rolle des Films nimmt er gleichermaßen in den Blick. Die Auswahl der Primärwerke für die jeweilige Epoche ist repräsentativ, der Ansatz komparatistisch, wenn Vergleiche mit französischen, deutschen und italienischen Autoren herangezogen werden.

Die Darstellung der tausendjährigen Geschichte spanischer Literatur erfolgt chronologisch, der Herausgeber verfolgt ein traditionelles Einteilungsprinzip, faßt aber den Literaturbegriff sehr weit und schließt insbesondere in der Würdigung des 20. Jahrhunderts Unterhaltungsliteratur, Essayistik, Kino, Journalismus mit ein. Obwohl ein Sachregister fehlt, wird die Orientierung durch eine dreigestufte Hierarchie von Überschriften sowie durch Randglossen erleichtert. Das Photomaterial vom Kreuzgang auf der ersten bis zu den "Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs" auf der vorletzten Seite[3] vermittelt einen bildlichen Eindruck der kulturgeschichtlichen Wirklichkeit der jeweiligen Epoche. Ein Namens- und Werkregister mit Angaben der Lebensdaten und eine auf knapp 300 Titel beschränkte, nach Epochen gegliederte Auswahlbibliographie erleichtern den Zugang.

Die Gliederung in die fünf Abschnitte Mittelalter (Manfred Tietz), Siglo de Oro (Manfred Tietz, Gerhard Poppenberg, Hans-Jörg Neuschäfer und Sebastian Neumeister), 18. Jahrhundert (Jutta Schütz), 19. Jahrhundert, 20. Jahrhundert (Hans-Jörg Neuschäfer) entspricht der klassischen Einteilung. Es konnten Mitautoren gewonnen werden, die aufgrund ihres eigenen Forschungsinteresses als fachkundige Spezialisten für die jeweils behandelte Zeit gelten können. "Am liebsten hätte ich die Literaturgeschichte allein geschrieben", so der Herausgeber in der Einleitung, und tatsächlich wurden trotz der Mehrverfasserschaft des Werkes, vielleicht mit Ausnahme des Abschnitts über das Goldene Zeitalter, unter Neuschäfers redaktionellem Einfluß Stilsprünge und unterschiedliche literaturwissenschaftliche Herangehensweisen vermieden, die aufgrund der häufig wechselnden Federführung einzelner Abschnitte an der von Michael Rössner herausgegebenen Lateinamerikanischen Literaturgeschichte[4] negativ aufgefallen waren. Eine Beschränkung auf die spanischsprachige Literatur unter Verzicht auf die katalanische, baskische, galicische ist der verlagsseitig vorgegebenen Umfangsbegrenzung geschuldet (vgl. S. VIII).

Der Leser kann sich die spanische Kultur sowohl anhand der Sachthemen (Novela picaresca, Costumbrismus) als auch über die Einzeltexte (Don Quijote, Don Juan, La Regenta) erschließen. Manfred Tietz hat den Geschichtsbegriff des Spaniens der Mauren, Juden und Christen geklärt und die literarischen Zeugnisse vom Cantar de Mío Cid bis zur Celestina konzentriert und übersichtlich vorgeführt. Es war naheliegend, daß sich Neuschäfer, dessen wissenschaftliches Interesse schon immer vorzugsweise der spanischen Erzählkunst und ihrer Umsetzung in andere (mediale) Kunstformen gehörte, das Kapitel über Cervantes und die Genese des Romans vorbehielt.[5] Die Darstellung Poppenbergs (Moralistik, Geschichte) ist als zu theoriebefrachtet kritisiert worden;[6] immerhin ist es ihm und Sebastian Neumeister (Lyrik) zu verdanken, daß durch die kurzfristige Bereitschaft, die ursprünglich Manfred Tietz zugedachten Kapitel zu übernehmen, der Band termingerecht erscheinen konnte.

Die zeitgenössische Auseinandersetzung in der Barockliteratur zwischen Góngora ("Kulteranist") und den "klaren" Dichtern (Lope de Vega, Quevedo) wird anschaulich und unparteiisch wiedergegeben. Es ist nicht den Autoren anzulasten, daß die Konzeption der Literaturgeschichtsreihe bei Metzler kein Sachregister vorsieht und nicht mit Verweisungen innerhalb der Bände auf sachverwandte Themen arbeitet. Im Kapitel Moralistik (Quevedo, S. 95) hätte man beispielsweise einen Hinweis auf den Abschnitt Barockliteratur (Quevedo, S. 121) gewünscht, um bei gezieltem Informationsbedürfnis das Hin- und Herblättern zu erleichtern.

Die Stärke des Bandes liegt neben seiner anschaulichen Darstellungsweise zweifellos in der geglückten Verknüpfung von literarischen Würdigungen und sozialgeschichtlichem Umfeld. Dies wird insbesondere deutlich im Abschnitt über das in Spanien hinsichtlich seiner literarischen Zeugnisse erst in neuerer Zeit intensiver beachtete 18. Jahrhundert. Die im Vorwort des Herausgebers erklärte Übereinkunft der Autoren, den Schwerpunkt auf die moderne Literatur Spaniens zu legen, die in Deutschland am wenigsten bekannt sei (S. VIII), schlägt sich im Umfang der Seiten, die dem 20. Jahrhundert gewidmet sind, nicht nieder. Obwohl Neuschäfers neuere Forschungsbeiträge[7] gerade der neuesten Entwicklung auf dem spanischen Buchmarkt gewidmet sind, wurde der Literatur nach 1975 (S. 389 - 402) bedauerlicherweise weniger Beachtung geschenkt, als in dem oben erwähnten kurzen Abriß von Martin Franzbach. In keiner anderen deutschsprachigen Literaturgeschichte wird dem Thema der Zensur, die bekanntlich nicht nur die Literatur, sondern auch Theaterinszenierungen und Film beeinflußte, in der Francozeit soviel Raum gegeben. Literaturverfilmungen der neueren Zeit dokumentieren den "intermedialen Charakter" der spanischen Gegenwartskultur.[8]

Durch die Beiträge der fünf Autoren schärft sich die Sicht des Lesers auf Kontinuitäten, Wechselwirkungen und Grenzüberschreitungen literarischer Zeugnisse. Als Ergänzung zu den eher am studentischen Bedarf orientierten literaturgeschichtlichen Lehrtexten von Wittschier und Franzbach ist Neuschäfers Spanische Literaturgeschichte unverzichtbare wissenschaftliche Grundlagenliteratur.

Regine Schmolling


[1]
IFB 96-2/3-285. (zurück)
[2]
IFB 96-2/3-284. (zurück)
[3]
Rez. von Rosemarie Bollinger in: Literatur im DeutschlandRadio:
http://www.dradio.de/cgi-bin/es/neu-lit-r/805.html (zurück)
[4]
IFB 97-3/4-341. (zurück)
[5]
La ética del Quijote : función de las novelas intercaladas / Hans-Jörg Neuschäfer. - Madrid : Gredos, 1999. - 122 S. - ([Biblioteca románica hispánica / 2] ; 414). - ISBN 84-249-1989-0. (zurück)
[6]
Rez. von Gustav Siebenmann in: Iberoromania. - 49 (1999), S. 134. (zurück)
[7]
Aufbrüche : die Literatur Spaniens seit 1975 / hrsg. von Dieter Ingenschay und Hans-Jörg Neuschäfer. - 2., aktual. Aufl. - Berlin : Ed. Tranvía, 1993. - 255 S. : Ill. - ISBN 3-925867-08-2. - Macht und Ohnmacht der Zensur : Literatur, Theater und Film in Spanien (1933 - 1976) / Hans Jörg Neuschäfer. - Stuttgart : Metzler, 1991. - 344 S. : Ill. - ISBN 3-476-00739-1. (zurück)
[8]
Rez. von Volker Jaeckel in: Iberoamericana. - 73 (1999),1, S. 55. (zurück)

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