Gegenüber dem Sankt-Petersburger Lexikon ist das hier besprochene neue
Moskauer sowohl im Bestand der Aufgenommen als auch in der politischen
Beurteilung ausgewogener. Der Anteil an jüngeren und älteren
Schriftstellern, auch an Schriftstellerinnen, die vor 1992 noch nicht
aufgefallen waren, ist bei Nikolaev erheblich größer. 112 sind in
meinem Lexikon nicht enthalten, das aber über 290 Schriftsteller
informiert, die er nicht einbezogen hat. Der aktuelle russische
Nationalismus bedingte u.a. den Ausschluß einiger Schriftsteller
nichtrussischer Herkunft wie C. Ajtmatov und G. Ajgi, obwohl sie durch
ihre russisch geschriebenen Werke international als Teil der
russischen Literatur bekannt wurden. Bei Skatov finden sich etliche
drittklassige Autoren, die wohl auf Drängen der Verfasser um des
Honorars willen aufgenommen wurden, nicht weil ein
Nachschlagebedürfnis besteht, bei Nikolaev rufen Ausnahmen wie
Fat'janov diesen Eindruck selten hervor. Zurückhaltend sind die
Herausgeber noch immer gegenüber der Emigration. Es fehlen im neuen
Lexikon viele wichtige, z.B. O. Anstej und L. Alekseeva, die 1998 mit
V. Sinkevic in einer Anthologie dieser drei Lyrikerinnen in der Heimat
vorgestellt worden waren.[5] Es fehlt Boris Chazanov, dessen Werke seit
Jahren in Rußland erscheinen und der in Deutschland 1998 als bisher
einziger Russe den Preis "Literatur im Exil" erhalten hat.
Herausgeber von Lexika ziehen als Mitarbeiter gern Spezialisten heran.
Dem verdanken wir in beiden Lexika gute Artikel. Allerdings hat auch
Nikolaev gelegentlich Autoren von Monographien der Sowjetzeit gewählt,
deren ideologische Enge unverändert blieb. Vitalij M. Ozerov hätte
nicht über Fadeev und Furmanov schreiben sollen. Umso besser war die
Entscheidung, Ol'ga Kuslina mit dem Artikel über Kocetov zu
beauftragen.
Die Artikel in Nikolaevs Lexikon integrieren die Werkanalysen in den
Lebenslauf. Die Titel sind durch Fettdruck hervorgehoben. Selten
finden sich hilfreiche Kurzcharakteristiken der Autoren, selten wird
gewertet, aber häufig werden Urteile der Sekundärliteratur zitiert
(mit bibliographischer Angabe). In der Sowjetzeit wurden unterdrückte
Werke vieler bedeutender Autoren von einigen russischen Emigranten und
Slavisten im Westen herausgegeben, um das wahre Bild der russischen
Literatur zu erhalten. Solche Leistungen werden nicht konsequent
erwähnt. Zwar wird bei Lidija Cukovskaja auf die
Erstveröffentlichungen im Westen und auf die Monographie von Annette
Julius verwiesen, bei Anna Achmatovas Rekviem aber der Erstdruck mit
1987 angegeben und die tatsächliche Erstveröffentlichung dieses in
seiner Bedeutung sofort erkannten Zyklus 1963 in München und Frankfurt
a.M. 1964 verschwiegen. N. Erdmans Drama Mandat von 1925 erschien
erstmals in München 1976, um es endlich den Forschern bekanntzumachen,
aber im Lexikon wird das ebensowenig erwähnt wie fünf Bände mit frühen
Texten von M. Bulgakov (München 1976 - 1983), auf denen deren
Erstausgabe (Morfij 1991) in Moskau aufbaute.
Dem Grad der Zuverlässigkeit des Verfassers entsprechen die
bibliographischen Angaben. Oft sind sie lohnend. Allerdings stehen sie
teils in einer Bibliographie, teils im Text. Hinweise auf westliche
Sekundärliteratur sind spärlich. Ein Namenregister hätte das Lexikon
bereichert. Im Vergleich mit dem weitgehend gleichzeitig entstandenen
Sankt-Petersburger Vorläufer ist Nikolaevs Lexikon schon wegen des
etwas anderen Bestandes, aber auch wegen der überwiegend anderen
Verfasser der Artikel zu empfehlen. Die Schatten der politischen
Vergangenheit trüben hier nur einen kleinen Teil, insgesamt ist es ein
gutes, die bestehenden Lexika wesentlich ergänzendes Werk.
Wolfgang Kasack
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