Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 9(2001) 1
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Literaturnaja enciklopedija russkogo zarubez'ja 1918


01-1-064
Literaturnaja enciklopedija russkogo zarubez'ja 1918 - 1940 = Encyclopaedia of the Russian émigré literature 1918 - 1940 / Rossijskaja Akademija Nauk, Institut Naucnoj Informacii po Obscestvennym Naukam. [Glavnyj redaktor: A. N. Nikoljukin]. - Moskva : ROSSPEN. - 26 cm
[6221]
[T. 1]. Pisateli russkogo zarubez'ja = Russian émigré writers. - 1997. - 512 S. : Ill. - ISBN 5-86004-086-5
[T. 2]. Periodika i literaturnye centry = Periodics and literary centers. - 2000. - 640 S. : Ill. - ISBN 5-8243-0097-6

Bald nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat Aleksandr Nikolaevic Nikoljukin (geb. 1928) vom Moskauer Institut für Wissenschaftliche Information in den Gesellschaftswissenschaften der Russischen Akademie der Wissenschaften (INION RAN) beschlossen, ein ausführliches Lexikon zur Literatur der ersten Welle der russischen Emigration herauszugeben. Die für den Zeitraum 1918 bis 1940 im Jahre 2000 vorgelegte Publikation ist eines der erfreulichen Ereignisse der nun möglichen und dringend notwendigen Einbeziehung der Emigration in das Geistesleben Rußlands. Nikoljukin ist als Anglist seit 1976 am INION RAN tätig und hat u.a. 1985 - 1987 ein Nachschlagewerk über Literaturwissenschaftler im Westen veröffentlicht.[1] Das neue Lexikon besteht aus einem Personen- und einem Sachteil. Das Personenlexikon erschien erstmals 1994 - 1996, das Sachlexikon 1996 - 1998, jeweils in drei Bänden als broschierte Ausgabe des INION RAN in nur 600 Exemplaren und wurden danhn 1997 und 2000 in erweiterter Form vom Verlag ROSSPEN herausgebracht.

In dem Personenband sind 260 Schriftsteller erfaßt. Die meisten gehören zur Ersten Emigration, einige, die bis 1940 im Baltikum lebten, zur Zweiten. Dabei ist der Begriff "Schriftsteller" nicht auf Verfasser schöngeistiger Literatur beschränkt. Etwa drei Viertel sind Prosaiker und Lyriker, zehn Prozent Philosophen, meist Religionsphilosophen, und 15 Prozent Literaturwissenschaftler, Kritiker und Journalisten, wobei die Grenzen natürlich nicht scharf sind.

Geboten werden in jedem der Artikel, die mit durchschnittlich 10.000 Zeichen etwa fünf Normseiten umfassen, die Lebensdaten nach altem und neuem Kalender, Herkunft, zum Teil mit näheren Angaben über historisch wichtige Vorfahren, Lebensabriß mit Emigrationszeitpunkt und Hinweisen auf biographische Schilderungen im Werk, berufliche Tätigkeit im Ausland, persönliche Beziehungen im literarischen Bereich und vor allem eine Charakteristik des Gesamtschaffens und einzelner Werke, häufig bereichert durch Zitate aus - oft seltener - Sekundärliteratur, dazu eine nach Möglichkeit bis 1995 geführte Auswahlbibliographie. Ein Namenregister führt zu jeder Erwähnung der Schriftsteller und zu den Verfassern der Sekundärliteratur.

Bei der Ausarbeitung der Artikel wurde westliche Literatur - Nachschlagewerke, spezielle Beiträge, Rezensionen und, falls vorhanden, Monographien - umfangreich einbezogen. Die Artikel zeigen gründliche neue Arbeit. Am Schluß eines jeden Artikels wird auf einige Nachschlagewerke mit Siglen verwiesen, eine Methode, die sich in westlichen Bibliographien und Lexika bewährt hat. Hier wäre das Prinzip der Vollständigkeit unter Einbeziehung wichtiger sowjetischer Lexika nützlicher gewesen als das der subjektiven Auswahl.

Ein Vergleich mit der Kratkaja literaturnaja enciklopedija (KLE) veranschaulicht die sowjetische Verfälschung. Beispielsweise fehlt bei Sklovskij in der KLE neben vielem anderen bereits das Faktum seiner zeitweiligen Emigration überhaupt. Andererseits sind im neuen Lexikon die nicht zur Emigration gehörenden Jahrzehnte in Sklovskijs Tätigkeit nach der Rückkehr aus Berlin nur knapp angedeutet. Das Bild ist in solchen Fällen also nicht vollständig. Selbstverständlich findet der Fachmann für bestimmte Emigranten Ungenauigkeiten, Lücken und auch Fehler, aber das gilt für jedes Lexikon. Bedauerlich ist, daß, wie in Sowjetveröffentlichungen, in beiden Bänden nichtrussische Namen und Orte nur kyrillisch geschrieben sind, als ob das Lexikon sich nur an Benutzer wende, die der lateinischen Schrift nicht mächtig sind. In Fremdsprachen erschienene Werktitel aber werden viel zitiert. Das Werk verschweigt weder die vernichtenden Urteile vieler Emigranten über das bolschewistische System noch die Verfälschungen in sowjetischen Publikationen.

1997 war in demselben Verlag das Goldene Buch der Emigration[2] erschienen, das Artikel ähnlichen Umfangs über 415 russische Emigranten aus Wissenschaft, Literatur, Kirche, Kunst und Wirtschaft enthält, die 1917 bis 1922 vor dem roten Terror fliehen mußten oder ausgewiesen wurden. Für die Artikel über Schriftsteller hat Nikoljukin oft dieselben Wissenschaftler herangezogen, die dann weitgehend textgleich schrieben, aber wenn es verschiedene Verfasser sind (z.B. bei Georgij Ivanov), fallen die Artikel im neuen Lexikon erheblich ausführlicher aus. Bei den zehn Philosophen wurden eher andere Mitarbeiter gewählt. Nur Nikoljukins Lexikon gibt die Quellen von Zitaten an, verzeichnet bei Büchern die Verlage. Die Bibliographien ergänzen einander. Sie enthalten russische und westliche Literatur, doch fehlen oft anerkannte deutsche Monographien.[3] Lohnend ist unbedingt eine parallele Nutzung des neuen Standardwerks von John Glad,[4] des besten amerikanischen Spezialisten für die russische Emigration.

In Nikoljukins zweitem Band, dem der Sachbegriffe, ist erheblich mehr enthalten als die vom Titel versprochenen Charakteristika von Zeitschriften und literarischen Zentren. So werden z.B. umfassend die Verlage der Emigration vorgestellt. Die Stichwortwahl ist bei Sachlexika immer schwierig, hier ist sie bei den Verlagen inkonsequent, was das Nachschlagen sehr erschwert: Die meisten Verlagsartikel sind nach den Städten, wo sie angesiedelt waren, eingeordnet (Berliner, Pariser, Belgrader, Harbiner, Konstantinopeler, Prager, Rigaer und Stockholmer Verlage). Für die Verlage in Bulgarien, Estland und Finnland wurde eine alphabetische Zuordnung nach den Ländern gewählt, der Pariser YMCA-Verlag findet sich als einziger unter seinem Namen (IMKA-Press).

Einen Schwerpunkt bilden die Artikel über Periodika - Zeitschriften und Zeitungen. Eine gesonderte Liste führt die wichtigsten auf, und das sind bereits 78. Der bedeutendsten Zeitschrift der Ersten Emigration, den Pariser Sovremennye zapiski (1920 - 1940) ist ein Artikel von 15,5 Spalten (zu 2150 Zeichen), also von etwa 16 Normseiten gewidmet. In meinem Lexikon der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts[5] konnte ich der Zeitschrift eine Seite geben, Viktor Terras stellte in dem von ihm herausgegebenen Handbook of Russian literature[6] noch weniger zur Verfügung. Dieser erheblich größere Umfang, den die Beschränkung auf Emigrationsliteratur ermöglicht, ist ein großer Gewinn: Die Ausführlichkeit basiert auf gründlicher Forschung und dient dem wissenschaftlichen Wert jedes einzelnen Artikels. Erscheinungsweise, Redakteure, Hauptmitarbeiter, Struktur, politische Tendenz und jeweils eine große Auswahl der Mitarbeiter, oft mit Angabe von Beiträgen werden geboten. Etwa identisch mit dem Umfang des Artikels über Sovremennye zapiski ist der, den Nikoljukin der Prager Zeitschrift Volja Rossii (1920 - 1932) zugemessen hat, die - stärker politisch ausgerichtet - gern gegen die Sovremennye zapiski polemisierte. Ausgewogen ist, daß die Pariser Zeitschrift Versty (1926 - 1928) acht Spalten erhielt. Sie hatte mit ihrer sowjetfreundlichen Haltung der "Smenovechovstvo", der anpassungsbereiten "Wegmarkenwechsler", geringere Bedeutung. Der durch seine Literaturgeschichte bekannte Fürst D. Svjatopolk-Mirskij war dort Hauptrezensent, bis er in die Sowjetunion zurückkehrte und offensichtlich noch im Lager Vorteile durch seine Tätigkeit für den sowjetischen Nachrichtendienst hatte.[7] Relativ kurz ist der Artikel über die zweiwöchentlich erscheinende Prager Zeitung der Russischen Orthodoxen Kirche im Ausland Pravoslavnaja Rus' ausgefallen, die 1928 - 1944 in der Tschechoslowakei erschien und seit 1947 in den USA (Kloster in Jordanville) herausgegeben wird. In diesem Artikel finden wir viele Informationen über die Geschichte der Zeitung, über ihre Redakteure und wichtige einzelne Beiträge, auch über ergänzende Buchausgaben, aber die geistliche und kirchliche Seite der Zeitung, die in Jordanville zur Zeitschrift wurde, wird außer acht gelassen.

Vom Titel des Lexikons her überraschend ist nicht nur der Artikel Pariser Note, denn das war eine literarische Haltung, keine Zeitschrift, kein Zentrum und kein Verband, sondern insbesondere der Anhang, in dem 19 Zeitschriften verzeichnet sind, deren Veröffentlichung erst nach dem Begrenzungsjahr - 1940 - begonnen hat. Diese Zeitschriften der Zweiten und Dritten Emigration wurden nach dem Prinzip ausgewählt, ob sie Emigranten der ersten Welle offenstanden, und auf deren Beiträge wird vor allem verwiesen. Novyj zurnal erhielt 12 Spalten, die ein Nachdruck des Artikels von Roman Gul' von 1972, dem Redakteur von 1959 - 1986, eröffnet. Über die Zeit nach dessen Tod hat Nikoljukin selbst geschrieben. Er zitiert Gleb Struve, der Novyj zurnal als "führende Zeitschrift der Emigration" in der Nachfolge der Sovremennye zapiski bezeichnet, und A. Sedych, der sie "das Beste, was in der Emigration geschaffen worden sei" nennt. Etwas kurz scheint der Artikel über Grani (Frankfurt am Main) zu sein, der wichtigsten in Deutschland 1946 - 1991 erschienenen Emigrantenzeitschrift (seitdem in Moskau), aber diese hatte mehr Bedeutung in der Veröffentlichung von Werken der zweiten und dritten Emigrationswelle. Verfasserin ist die langjährige (1987 - 1997) Grani-Redakteurin E. A. Breitbart, die heute Redaktionssekretärin des Novyj zurnal ist. Der Artikel über den Vestnik Russkogo Christianskogo dvizenija (1925 - 1939) macht besonders deutlich, daß sich in der geistigen Situation Rußlands während des letzten Jahrzehnts auch viel zum Positiven gewandelt hat. Neben der Einbeziehung von Kontinent und Vremja i my, mit denen der Benutzer rechnet, stehen Artikel, die überraschen und dadurch erfreuen, wie der über Satirikon (Frankfurt am Main) von Sergej Dmitrenko - Ergebnis aktueller Forschung in Deutschland.

Unter den literarischen Zentren gehörte zu den bekanntesten in Paris die Zelenaja lampa (1927 - 1939). In dem ausführlichen Artikel werden auch 52 Veranstaltungen mit ihren Themen und Hauptrednern aufgeführt. Eine der wichtigsten Prager Institutionen der Emigration war die Dostoevskij-Gesellschaft (Obscestvo Dostoevskogo, 1925 - 1939), über die sachkundig informiert wird. In Estland gab es einige Dichtergruppen, die ihre Bezeichnungen von dem Cech poetov der Akmeisten (1911 - 1914) übernahmen. Sie sind ebenso einbezogen wie Russkij dom imeni Imperatora Nikolaja II v Belgrade und die verschiedenen "Literarischen Kreise" in Harbin, Narva oder San Francisco. Im zweiten Band d nennt Nikoljukin insgesamt 72 Autoren der Artikel. Im ersten waren es offenbar noch mehr. Durch eigene Lexika zur Emigration sind von ihnen bekannt V. V. Agenosov[8] aus Rußland, S. G. Isakov[9] aus Estland und Vadim Krejd[10] aus den USA.

Anders als in vielen Lexika findet sich nur selten am Schluß der Artikel eine Bibliographie, aber in die Texte sind Verweise auf Sekundärliteratur einbezogen. Da es Erinnerungen und Monographien und Lexika gibt, in denen die Erste Emigration erfaßt (oder mitberücksichtigt) wird, wurden für die wichtigsten 27 Siglen verwendet, z.B. die Werke von Berberova, Gul', Michajlov, Poltorackij, Struve, Terapiano. Das Register ist hervorragend: Alle in den Artikeln erwähnten Namen sind berürcksichtigt so daß bei Forschungen über einzelne Schriftsteller viele Details entdeckt werden können. In das Sachregister ("Register der literarischen Zentren" genannt) sind ebenfalls - unter Hervorhebung der Seiten, falls es einen eigenen Artikel gibt - alle Erwähnungen einbezogen, auch die im Autorenband. Besser ist es nicht denkbar. Lediglich ein Verzeichnis, wie das Verlagswesen einbezogen ist, wäre noch sinnvoll gewesen, und das Lexikon wäre leichter benutzbar, wenn die Zeile für den Kolumnentitel nicht zur Hälfte für den Buchtitel mißbraucht worden wäre.

Der Wert der beiden informationsreichen und ausgewogenen Bände, bei denen zum Schluss auch die generelle politische, auch die religiöse Offenheit, die völlige Lösung von der sowjetischen Ideologie gelobt sein soll, wird durch die Register noch verdoppelt und durch einige Seiten mit Porträts und anderen Abbildungen erhöht: Eine Anerkennung der geistigen und kulturellen Leistungen der russischen Emigration, ein wichtiger Beitrag zur Aufarbeitung der Vergangenheit des russischen Geisteslebens, ein internationales Standardwerk, ein Dienst an der Forschung, eine Grundlage für entsprechende Werke über die Zweite und Dritte Emigration.

Wolfgang Kasack


[1]
Sovremennye zarubeznye literaturovedy : strany kapitalizma ; spravocnik / E. A. Curganova ; A. N. Nikoljukin. - Moskva : INION. - 1 (1985) - 3 (1987). (zurück)
[2]
Russkoe zarubez'e : zolotaja kniga emigracii ; pervaja tret' XX veka ; enciklopediceskij biograficeskij slovar' = Russia abroad. - Moskva : ROSSPEN, 1997. - 748 S. : Ill. ; 27 cm. - ISBN 5-86004-038-5 : DM 160.00 (Kubon & Sagner) [4217]. - Rez.: IFB 99-B09-730. (zurück)
[3]
Z.B. von Frank Göbler das Buch über V. Chodasevic in beiden Literaturlexika und von Wolfgang Schriek das über I. Smelev im Goldenen Buch. (zurück)
[4]
Russia abroad : writers, history, politics / by John Glad. Foreword by Victor Terras. - Tenafly, NJ : Hermitage Publishers ; Washington, DC : Birchbark Press, 1999. - 739 S. ; 22 cm. - ISBN 1-55779-115-5 (Hermitage Pr.) : $ 59.90 [5592]. - Rez.: IFB 99-1/4-215. (zurück)
[5]
Rez.: ABUN in ZfBB 39 (1992),6, S. 542 - 543; zuletzt IFB 00-1/4-212. (zurück)
[6]
Handbook of Russian literature / ed. by Victor Terras. - New Haven ; London : Yale University Press, 1985. - XIX, 558 S. ; 29 cm. - ISBN 0-300-03155-6 : $ 30.00 [0166]. - Rez.: ABUN in ZfBB 33 (1986),1, S. 34 - 35. (zurück)
[7]
Geboren in Moskau : Erinnerungen eines baltendeutschen Diplomaten 1912 - 1955 / Erich Franz Sommer. München : Langen-Müller, 1997, 456 S. : Ill. - Rez.: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. 4 (1999),2, S. 279 - 280 (W. Kasack). (zurück)
[8]
Literatura russkogo zarubez'ja : [(1918 - 1996)] / V. V. Agenosov. - Moskva : Terra. Sport, 1998. - 540 S. : Ill. ; 22 cm. - ISBN 5-93127-002-7 [5649]. - Rez.: IFB 99-1/4-216. (zurück)
[9]
Russkie obscestvennye i kul'turnye dejateli v Estonii : materialy k biograficeskomy slovarju ; slovnik / Russkij Issledovatel'skij Centr pri Sojuze Slavjanskich Prosvetitel'nych i Blagotvoritel'nych Obscestv v Estonii. Sost. S. G. Isakov. - Tallinn : Sojuz Slavjanskich Prosvetitel'nych i Blagotvoritel'nych Obscestv v Estonii. - 20 cm. - (Prof. Sergei Issakov, Vaksali 11-43, EE 2400 Tartu) [5252]. - T. 1. (Do 1940 g.). - Izd. 2., ispravlennoe i dopolnennoe. - 1996. - 140 S. - Rez.: IFB 99-B09-732. (zurück)
[10]
Slovar' poetov russkogo zarubez'ja / Russkij Christianskij Gumanitarnyj Institut, Institutio Rossica Christiana. Pod obscej red. Vadima Krejda. - Sankt-Peterburg : Izdat. Russkogo Christianskogo Gumanitarno Instituta, 1999. - 472 S. ; 21 cm. - ISBN 5-88812-094-4 [5862]. - Rez.: IFB 00-1/4-213. (zurück)

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