In dem Personenband sind 260 Schriftsteller erfaßt. Die meisten gehören zur Ersten Emigration, einige, die bis 1940 im Baltikum lebten, zur Zweiten. Dabei ist der Begriff "Schriftsteller" nicht auf Verfasser schöngeistiger Literatur beschränkt. Etwa drei Viertel sind Prosaiker und Lyriker, zehn Prozent Philosophen, meist Religionsphilosophen, und 15 Prozent Literaturwissenschaftler, Kritiker und Journalisten, wobei die Grenzen natürlich nicht scharf sind.
Geboten werden in jedem der Artikel, die mit durchschnittlich 10.000 Zeichen etwa fünf Normseiten umfassen, die Lebensdaten nach altem und neuem Kalender, Herkunft, zum Teil mit näheren Angaben über historisch wichtige Vorfahren, Lebensabriß mit Emigrationszeitpunkt und Hinweisen auf biographische Schilderungen im Werk, berufliche Tätigkeit im Ausland, persönliche Beziehungen im literarischen Bereich und vor allem eine Charakteristik des Gesamtschaffens und einzelner Werke, häufig bereichert durch Zitate aus - oft seltener - Sekundärliteratur, dazu eine nach Möglichkeit bis 1995 geführte Auswahlbibliographie. Ein Namenregister führt zu jeder Erwähnung der Schriftsteller und zu den Verfassern der Sekundärliteratur.
Bei der Ausarbeitung der Artikel wurde westliche Literatur - Nachschlagewerke, spezielle Beiträge, Rezensionen und, falls vorhanden, Monographien - umfangreich einbezogen. Die Artikel zeigen gründliche neue Arbeit. Am Schluß eines jeden Artikels wird auf einige Nachschlagewerke mit Siglen verwiesen, eine Methode, die sich in westlichen Bibliographien und Lexika bewährt hat. Hier wäre das Prinzip der Vollständigkeit unter Einbeziehung wichtiger sowjetischer Lexika nützlicher gewesen als das der subjektiven Auswahl.
Ein Vergleich mit der Kratkaja literaturnaja enciklopedija (KLE) veranschaulicht die sowjetische Verfälschung. Beispielsweise fehlt bei Sklovskij in der KLE neben vielem anderen bereits das Faktum seiner zeitweiligen Emigration überhaupt. Andererseits sind im neuen Lexikon die nicht zur Emigration gehörenden Jahrzehnte in Sklovskijs Tätigkeit nach der Rückkehr aus Berlin nur knapp angedeutet. Das Bild ist in solchen Fällen also nicht vollständig. Selbstverständlich findet der Fachmann für bestimmte Emigranten Ungenauigkeiten, Lücken und auch Fehler, aber das gilt für jedes Lexikon. Bedauerlich ist, daß, wie in Sowjetveröffentlichungen, in beiden Bänden nichtrussische Namen und Orte nur kyrillisch geschrieben sind, als ob das Lexikon sich nur an Benutzer wende, die der lateinischen Schrift nicht mächtig sind. In Fremdsprachen erschienene Werktitel aber werden viel zitiert. Das Werk verschweigt weder die vernichtenden Urteile vieler Emigranten über das bolschewistische System noch die Verfälschungen in sowjetischen Publikationen.
1997 war in demselben Verlag das Goldene Buch der Emigration[2]
erschienen, das Artikel ähnlichen Umfangs über 415 russische
Emigranten aus Wissenschaft, Literatur, Kirche, Kunst und Wirtschaft
enthält, die 1917 bis 1922 vor dem roten Terror fliehen mußten oder
ausgewiesen wurden. Für die Artikel über Schriftsteller hat Nikoljukin
oft dieselben Wissenschaftler herangezogen, die dann weitgehend
textgleich schrieben, aber wenn es verschiedene Verfasser sind (z.B.
bei Georgij Ivanov), fallen die Artikel im neuen Lexikon erheblich
ausführlicher aus. Bei den zehn Philosophen wurden eher andere
Mitarbeiter gewählt. Nur Nikoljukins Lexikon gibt die Quellen von
Zitaten an, verzeichnet bei Büchern die Verlage. Die Bibliographien
ergänzen einander. Sie enthalten russische und westliche Literatur,
doch fehlen oft anerkannte deutsche Monographien.[3] Lohnend ist
unbedingt eine parallele Nutzung des neuen Standardwerks von John
Glad,[4] des besten amerikanischen Spezialisten für die russische
Emigration.
In Nikoljukins zweitem Band, dem der Sachbegriffe, ist erheblich mehr
enthalten als die vom Titel versprochenen Charakteristika von
Zeitschriften und literarischen Zentren. So werden z.B. umfassend die
Verlage der Emigration vorgestellt. Die Stichwortwahl ist bei
Sachlexika immer schwierig, hier ist sie bei den Verlagen
inkonsequent, was das Nachschlagen sehr erschwert: Die meisten
Verlagsartikel sind nach den Städten, wo sie angesiedelt waren,
eingeordnet (Berliner, Pariser, Belgrader, Harbiner, Konstantinopeler,
Prager, Rigaer und Stockholmer Verlage). Für die Verlage in Bulgarien,
Estland und Finnland wurde eine alphabetische Zuordnung nach den
Ländern gewählt, der Pariser YMCA-Verlag findet sich als einziger
unter seinem Namen (IMKA-Press).
Einen Schwerpunkt bilden die Artikel über Periodika - Zeitschriften
und Zeitungen. Eine gesonderte Liste führt die wichtigsten auf, und
das sind bereits 78. Der bedeutendsten Zeitschrift der Ersten
Emigration, den Pariser Sovremennye zapiski (1920 - 1940) ist ein
Artikel von 15,5 Spalten (zu 2150 Zeichen), also von etwa 16
Normseiten gewidmet. In meinem Lexikon der russischen Literatur des
20. Jahrhunderts[5] konnte ich der Zeitschrift eine Seite geben, Viktor
Terras stellte in dem von ihm herausgegebenen Handbook of Russian
literature[6] noch weniger zur Verfügung. Dieser erheblich größere
Umfang, den die Beschränkung auf Emigrationsliteratur ermöglicht, ist
ein großer Gewinn: Die Ausführlichkeit basiert auf gründlicher
Forschung und dient dem wissenschaftlichen Wert jedes einzelnen
Artikels. Erscheinungsweise, Redakteure, Hauptmitarbeiter, Struktur,
politische Tendenz und jeweils eine große Auswahl der Mitarbeiter, oft
mit Angabe von Beiträgen werden geboten. Etwa identisch mit dem Umfang
des Artikels über Sovremennye zapiski ist der, den Nikoljukin der
Prager Zeitschrift Volja Rossii (1920 - 1932) zugemessen hat, die
- stärker politisch ausgerichtet - gern gegen die Sovremennye zapiski
polemisierte. Ausgewogen ist, daß die Pariser Zeitschrift Versty (1926
- 1928) acht Spalten erhielt. Sie hatte mit ihrer sowjetfreundlichen
Haltung der "Smenovechovstvo", der anpassungsbereiten
"Wegmarkenwechsler", geringere Bedeutung. Der durch seine
Literaturgeschichte bekannte Fürst D. Svjatopolk-Mirskij war dort
Hauptrezensent, bis er in die Sowjetunion zurückkehrte und
offensichtlich noch im Lager Vorteile durch seine Tätigkeit für den
sowjetischen Nachrichtendienst hatte.[7] Relativ kurz ist der Artikel
über die zweiwöchentlich erscheinende Prager Zeitung der Russischen
Orthodoxen Kirche im Ausland Pravoslavnaja Rus' ausgefallen, die 1928
- 1944 in der Tschechoslowakei erschien und seit 1947 in den USA
(Kloster in Jordanville) herausgegeben wird. In diesem Artikel finden
wir viele Informationen über die Geschichte der Zeitung, über ihre
Redakteure und wichtige einzelne Beiträge, auch über ergänzende
Buchausgaben, aber die geistliche und kirchliche Seite der Zeitung,
die in Jordanville zur Zeitschrift wurde, wird außer acht gelassen.
Vom Titel des Lexikons her überraschend ist nicht nur der Artikel
Pariser Note, denn das war eine literarische Haltung, keine
Zeitschrift, kein Zentrum und kein Verband, sondern insbesondere der
Anhang, in dem 19 Zeitschriften verzeichnet sind, deren
Veröffentlichung erst nach dem Begrenzungsjahr - 1940 - begonnen hat.
Diese Zeitschriften der Zweiten und Dritten Emigration wurden nach dem
Prinzip ausgewählt, ob sie Emigranten der ersten Welle offenstanden,
und auf deren Beiträge wird vor allem verwiesen. Novyj zurnal erhielt
12 Spalten, die ein Nachdruck des Artikels von Roman Gul' von 1972,
dem Redakteur von 1959 - 1986, eröffnet. Über die Zeit nach dessen Tod
hat Nikoljukin selbst geschrieben. Er zitiert Gleb Struve, der Novyj
zurnal als "führende Zeitschrift der Emigration" in der Nachfolge der
Sovremennye zapiski bezeichnet, und A. Sedych, der sie "das Beste, was
in der Emigration geschaffen worden sei" nennt. Etwas kurz scheint der
Artikel über Grani (Frankfurt am Main) zu sein, der wichtigsten in
Deutschland 1946 - 1991 erschienenen Emigrantenzeitschrift (seitdem in
Moskau), aber diese hatte mehr Bedeutung in der Veröffentlichung von
Werken der zweiten und dritten Emigrationswelle. Verfasserin ist die
langjährige (1987 - 1997) Grani-Redakteurin E. A. Breitbart, die heute
Redaktionssekretärin des Novyj zurnal ist. Der Artikel über den
Vestnik Russkogo Christianskogo dvizenija (1925 - 1939) macht
besonders deutlich, daß sich in der geistigen Situation Rußlands
während des letzten Jahrzehnts auch viel zum Positiven gewandelt hat.
Neben der Einbeziehung von Kontinent und Vremja i my, mit denen der
Benutzer rechnet, stehen Artikel, die überraschen und dadurch
erfreuen, wie der über Satirikon (Frankfurt am Main) von Sergej
Dmitrenko - Ergebnis aktueller Forschung in Deutschland.
Unter den literarischen Zentren gehörte zu den bekanntesten in Paris
die Zelenaja lampa (1927 - 1939). In dem ausführlichen Artikel werden
auch 52 Veranstaltungen mit ihren Themen und Hauptrednern aufgeführt.
Eine der wichtigsten Prager Institutionen der Emigration war die
Dostoevskij-Gesellschaft (Obscestvo Dostoevskogo, 1925 - 1939), über
die sachkundig informiert wird. In Estland gab es einige
Dichtergruppen, die ihre Bezeichnungen von dem Cech poetov der
Akmeisten (1911 - 1914) übernahmen. Sie sind ebenso einbezogen wie
Russkij dom imeni Imperatora Nikolaja II v Belgrade und die
verschiedenen "Literarischen Kreise" in Harbin, Narva oder San
Francisco. Im zweiten Band d nennt Nikoljukin insgesamt 72 Autoren der
Artikel. Im ersten waren es offenbar noch mehr. Durch eigene Lexika
zur Emigration sind von ihnen bekannt V. V. Agenosov[8] aus Rußland, S.
G. Isakov[9] aus Estland und Vadim Krejd[10] aus den USA.
Anders als in vielen Lexika findet sich nur selten am Schluß der
Artikel eine Bibliographie, aber in die Texte sind Verweise auf
Sekundärliteratur einbezogen. Da es Erinnerungen und Monographien und
Lexika gibt, in denen die Erste Emigration erfaßt (oder
mitberücksichtigt) wird, wurden für die wichtigsten 27 Siglen
verwendet, z.B. die Werke von Berberova, Gul', Michajlov, Poltorackij,
Struve, Terapiano. Das Register ist hervorragend: Alle in den Artikeln
erwähnten Namen sind berürcksichtigt so daß bei Forschungen über
einzelne Schriftsteller viele Details entdeckt werden können. In das
Sachregister ("Register der literarischen Zentren" genannt) sind
ebenfalls - unter Hervorhebung der Seiten, falls es einen eigenen
Artikel gibt - alle Erwähnungen einbezogen, auch die im Autorenband.
Besser ist es nicht denkbar. Lediglich ein Verzeichnis, wie das
Verlagswesen einbezogen ist, wäre noch sinnvoll gewesen, und das
Lexikon wäre leichter benutzbar, wenn die Zeile für den Kolumnentitel
nicht zur Hälfte für den Buchtitel mißbraucht worden wäre.
Der Wert der beiden informationsreichen und ausgewogenen Bände, bei
denen zum Schluss auch die generelle politische, auch die religiöse
Offenheit, die völlige Lösung von der sowjetischen Ideologie gelobt
sein soll, wird durch die Register noch verdoppelt und durch einige
Seiten mit Porträts und anderen Abbildungen erhöht: Eine Anerkennung
der geistigen und kulturellen Leistungen der russischen Emigration,
ein wichtiger Beitrag zur Aufarbeitung der Vergangenheit des
russischen Geisteslebens, ein internationales Standardwerk, ein Dienst
an der Forschung, eine Grundlage für entsprechende Werke über die
Zweite und Dritte Emigration.
Wolfgang Kasack
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