Besonders negativ macht sich das Auslassen rein lateinischer Werke (und ihrer Autoren) bemerkbar, deren Mitberücksichtigung als eine der Stärken des Gesamtwerkes galt; kann man doch nur so den Interdependenzen in den verschiedenen Formen des Neben-, Vor- und Nacheinanders von Latein und Volkssprache(n) in der Literatur des europäischen Mittelalters gerecht werden. Waren auch schon dem Gesamtwerk in dieser Hinsicht gewisse Schwächen zu eigen (insbesondere im Hinblick auf das Altfranzösische), so soll in der Studienausgabe die Aufnahme weniger Einträge zu Autoren wie Notker, Meister Eckhart oder Sebastian Brant genügen, um "die enge Verflechtung von lateinischer und deutscher Schriftkultur" zu dokumentieren. Als Begründung dieses Vorgehens wird unverblümt die verlegerische Überlegung angegeben, einen eigenen Auswahlband für lateinische Werke und Autoren vorzulegen.
Angesichts der genannten Streichungen drängt sich die Frage auf, welches denn die übrig gebliebenen inhaltlichen Schwerpunkte der Studienauswahl sind. Auch dazu genügen die Ausführungen des Vorworts: "Bevorzugt wurden diejenigen Bereiche, die - vielleicht ja nicht ganz zu Unrecht - im akademischen Unterricht der germanistischen Institute am ehesten vorkommen: neben den ganz berühmten Autoren und Werken vor allem das 9. Jahrhundert, die Zeit von 1150 bis 1250, die Mystik des 13. und 14. Jahrhunderts, Kleinepik und Fastnachtspiel." Die kritische Beurteilung dieses Vorgehens wird von Wachinger selbst geliefert: "Selbstverständlich sind diese Grundsätze und viele Einzelentscheidungen nicht unproblematisch, und man mag meiner Auswahl insgesamt vorwerfen, sie leiste der Verfestigung eines Kanons bevorzugter Lehr- und Forschungsgegenstände Vorschub" (S. VI). Dagegen sollen die häufigen Verweisungen helfen, auch auf solche Artikel, die in der Studienauswahl fehlen.
Mit Befremden nimmt der Leser zur Kenntnis, wie durch Verweisungen (in verschiedenen Pfeilformen) die beschriebenen Defizite auch noch zu einer positiven didaktischen Maßnahme umgedeutet werden: "Wer sich daran gewöhnt hat, im handlichen Auswahlband zu nachzulesen, wird, wo dieser versagt, vielleicht den Weg in eine Bibliothek, in der das Gesamtwerk steht, weniger scheuen" (S. V). Zumal aus bibliothekarischer Sicht sicherlich die Hoffnung besteht, daß die angesprochene Scheu auch ohne den anzuzeigenden Studienband überwunden werden könnte, ist der Gedanke, ein derart lückenhaftes Werk zu produzieren und daß von vornherein Behelfe zu seiner Lückenergänzung einkalkuliert werden, zumindest als unkonventionell zu bezeichnen.
Positiv zu vermerken sind die bei jedem Artikel ergänzten Angaben zum jeweiligen Erscheinungszeitpunkt der betreffenden Lieferung und zur jeweiligen Fundstelle im Gesamtwerk sowie der vergleichsweise günstige Preis. Außerdem ist zu begrüßen, daß die berücksichtigten Einträge ungekürzt übernommen wurden. Im Vorwort wird darüberhinaus die für ein Lexikon gewiß nicht ungewöhnliche "lexikalische Anordnung" der Artikel und die Fokussierung auf die Autoren als "Basis für eine Diskussion historisch adäquater Autorschaftskonzepte" hervorgehoben (S. VI).
Die Frage nach einer eventuellen Anschaffung der Studienauswahl muß für jede wissenschaftliche Bibliothek nach den örtlichen Gegebenheiten entschieden werden: Sicherlich zielt der Verlag in erster Linie auf die Studierenden selbst, sicherlich sind in zahlreichen Bibliotheken die zehn Bände des Gesamtwerks bereits vorhanden. Bibliotheken mit Präsenznutzung, die bereits über das vollständige Werk verfügen (z.B. Institutsbibliotheken), dürften kaum Verwendung für die Auswahl haben. Allerdings könnten sich trotz der vorgebrachten Bedenken gerade Universitätsbibliotheken für die Anschaffung der Auswahl entscheiden, insbesondere wenn entsprechende Angebote z.B. im Rahmen einer Lehrbuchsammlung bereitgestellt und genutzt werden.
Johannes Mangei