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Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 9(2001) 2
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Kleines Handlexikon der Märchensymbolik


01-2-396
Kleines Handlexikon der Märchensymbolik / Felix von Bonin. - Stuttgart : Kreuz-Verlag, 2001. - 138 S. ; 21 cm. - ISBN 3-7831-1934-0 : DM 24.80
[6380]

Felix von Bonin ist Mitglied der Europäischen Märchengesellschaft, freier Journalist und Verleger; außer dem hier anzuzeigenden Titel ist mit seinem Namen die Sammlung Das steinerne Herz und andere Märchen von der Liebe verbunden, die er 1998 zusammenstellte.[1] Das Ziel seiner Veröffentlichung kennzeichnet er im Vorwort mit den Worten: "Das vorliegende Lexikon ... ist als Fremdenführer in ein Land gedacht, dem wir im Herzen näher sind als im Kopf. Die Darlegung der Bedeutungstiefe von Inventar und Personal im Märchen soll diese Nähe intensiver erlebbar, nachvollziehbar und verstehbar machen" (S. 7). Das könnten, so Bonin, gängige Märchenlexika nicht leisten, denn sie behandelten zwar die Inhalte der Märchen, ihre Varianten und Motive, aber die "Wörter" der "Märchensprache" kämen darin bestenfalls am Rande vor (S. 9). Diese ließen sich hingegen über die Märchensymbolik erschließen. Die Begriffe "Märchen" und "Symbol" hätten gemeinsam, daß sie unscharf und in Fachkreisen entsprechend umstritten seien; Symbole müßten gefunden und könnten nur erlebt werden - im Gegensatz zu Zeichen, die sich erfinden und definieren ließen. "Der Begriff 'Symbol' ... wird weitläufig synonym für 'Zeichen' verwendet, weil er besser klingt und nicht so sperrig im Ausdruck ist", sagt unser Autor und fügt dann etwas überraschend hinzu: "- so auch bei diesem Buchtitel" (S. 5).

Der Leser erfährt nichtdestoweniger, was das Lexikon unter 'Symbol' versteht - eine Gruppe von Zeichen, "die einen Gegensatz enthalten und den in einer überzeugenden Lösung zu einer Ganzheit vereinen ... Durch diese Vereinigung der Pole transzendiert die Bedeutung. Allein solche 'unendlich' bedeutungsvollen Zeichen sollten es wert sein, Symbol genannt zu werden" (S. 5 - 6). Dieser Beschreibung wird man zustimmen können; aber nicht in allen Artikeln unseres Lexikons läßt sie sich wiederfinden. Ob Kräuterfrau, Rübezahl oder Teufelsspiegel ("...bewirkt, daß alles, was nichts taugt, vergrößert wird, was aber gut und schön ist, verschwindet": nach Verena Kast) im Sinne unseres Lexikons tatsächlich durch die zur Ganzheit vereinte Polarisierung zum Symbol werden, kann man auf sich beruhen lassen oder muß es dem Autor glauben, denn der weiß: "Märchen beschreiben die seelische Realität der Schöpfung und die ist Symbol an sich" (S. 6).[2] Auf dieser Grundlage enthält das Lexikon auf 125 Seiten 239 knappe Artikel von Acht bis Zwölf, dazu 64 Verweisungen vom Typ Ahnfrau > Hexe. Unter stetem Hinweis auf die herangezogene Literatur werden Personal, Inventar und Attribute des Märchens gedeutet. Elf Lemmata werden als Fachbegriffe gekennzeichnet, "die allgemeine Erscheinungsformen subsummieren" (S. 9). Es handelt sich um formale Bezeichnungen wie Einleitungs- und Schlußphrase, Benennungen wie Rätselprinzessin, Tierbräutigam und Trickster und zusammenfassende Termini wie Rätselwettkampf und Suchwanderung; aber auch die wenig bekannte Bezeichnung Klappfelsen für "eine Felswand, die sich öffnet, um dem Märchenhelden Einlaß in die jenseitige Welt im 'Bauch des Berges' zu gewähren", wird als besonderer Terminus herausgehoben (S. 67).

Die Texte wurden in erster Linie Werken der psychoanalytischen Märchendeutung entnommen (Hedwig von Beit, Verena Kast, Bruno Bettelheim). Sie sollen, wie Bonin meint, die Vokabeln abgeben, die die Märchengrammatik und -syntax Max Lüthis[3] ergänzen können (S. 9). Insgesamt umfaßt das Literaturverzeichnis 21 deutschsprachige Titel aus den letzten Jahren, überwiegend Literatur aus den Bereichen Tiefenpsychologie und Lebenshilfe. Die philologische Märchenforschung ist - neben Lüthi - mit Bolte-Polívkas Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm (1913 - 1932), dem von Lutz Mackensen herausgegebenen, Torso gebliebenen Handwörterbuch des deutschen Märchens (1930 - 1940) und Walter Scherfs Märchen-Lexikon[4] vertreten; daß Bonin die Enzyklopädie des Märchens, den seit 1977 erscheinenden übergreifenden Nachfolger des veralteten Wörterbuchs von Mackensen, nicht benutzt hat, ist unverständlich, mag aber seine Erklärung darin finden, daß dem Autor die philologische Märchenforschung offenbar unsympathisch ist: "Unter Märchenforschern ist die Deutung von Märchen und ihren Symbolen ungeliebt. Viel positivistischer Fleiß wird hingegen aufgewendet, um Märchen zu sammeln, zu katalogisieren, zu typisieren und die Stammbäume ihrer Varianten zu dokumentieren" (S. 6); oder noch deutlicher: "Die Märchenkatalogisierer sind bloß eitel, wenn sie über vergaloppierte Interpretationen der Seelenforscher spotten, denn Stammbäume und Typenkataloge erschließen den Geist der Märchen nicht besser" (S. 7). Die Aversion mancher Tiefenpsychologen gegen den katalogisierenden positivistischen Pedanten, dem man im Höchstfalle seinen - leider ganz nutzlosen - Fleiß positiv anrechnet, ist so alt wie die Entdeckung des Märchens für therapeutische Zwecke. Die Volkserzählungsforschung ihrerseits verkraftet es nur schwer, wenn die von ihr erarbeiteten Abgrenzungen zwischen Mythen, Märchen und Sagen ignoriert und die Phänomene zugunsten ebendieser Zwecke wieder durcheinandergewirbelt werden (z.B. Stichwort Adler und Auge); wenn die in eminenter Fülle vorliegenden Märchentexte auf nur diejenigen reduziert werden, die das vorgelegte Konzept mittragen können (z.B. Stichwort Bett); wenn historische Bezüge nicht gesehen werden und deshalb ein Allgemeines gesetzt wird, wo der Hinweis auf spezielle Situationen und Abhängigkeiten angebracht wäre (z.B. Stichwort Bettler). Unser Autor entnimmt seinen Quellen ungeprüft zudem die abenteuerlichsten Etymologien. Ein Beispiel mag genügen: Der Artikel Fee zitiert eines der Quellenwerke[5] mit der Behauptung, "das ältere Fei wirkt auch im Wort ®feiern¯ nach, denn ®Feen erscheinen oft in der Dreizahl an den drei wichtigsten Stationen und Festen des Lebens.¯"[6] Mit Hilfe des anlautenden fei... hier eine etymologische Verbindung konstruieren zu wollen, deutet auf fehlende Sprachkenntnis.[7] Daß Feen in der Dreizahl auftreten können (wenngleich nicht eben häufiger als zu siebt oder zu zwölft), bleibt unbestritten, läßt sich aber weder mit falscher noch mit richtiger Etymologie begründen. Etymologische Irrungen ähnlicher Art finden sich z.B. auch in den Artikeln König/in und Hexe. Philologische Pedanten sind nicht unbedingt eitler, gewiß aber bescheidener als psychologische Generalisten; sie hängen keinen, sie hätten ihn denn.[8] Den Geist der Märchen allgemein zu erschließen, scheint ihnen mit den Mitteln und Methoden ihrer Zunft kaum machbar; wohl aber den Geist einzelner Märchen, wenn die Überlieferung, die geschichtliche und die gesellschaftliche Situation sowie die Erzählsituation sich haben klären lassen. Was dabei herauskommen kann, mag für den Seelenforscher wiederum nicht anwendbar sein, während es dem Volkskundler keineswegs gleichgültig ist, welche Assoziationsbereiche der Psychologe den Motiven, Dingen und Gestalten des Märchens zuordnet - mag das Ergebnis nun als Symbol oder Zeichen oder unter der Überschrift Bedeutungstiefe wie hier interpretiert werden.

Willi Höfig


[1]
Das steinerne Herz und andere Märchen von der Liebe / neu erzählt von Felix von Bonin. - Ahlerstedt : Param, 1998. - 78 S. - (Param Brillant ; 4). - ISBN 3-88755-336-5 : DM 16.80. (zurück)
[2]
Die Beziehung von Märchen und Psychotherapie ist derzeit Gegenstand der Diskussion, dokumentiert in der Zeitschrift Märchenspiegel. Einen Einstieg bietet: Volksmärchen als Medium in der Psychotherapie / Kathrin Pöge-Alder. // In: Märchenspiegel. - 12 (2001),1, S. 3. (zurück)
[3]
Von den zahlreichen Werken Lüthis nennt Bonin: Das europäische Volksmärchen (1947). (zurück)
[4]
Vgl. IFB 96-1-071). (zurück)
[5]
Bildersprache der Seele / Bruno P. Schliephacke. - Berlin, 1970 (lag dem Rezensenten nicht vor). (zurück)
[6]
Zu den tatsächlichen Verhältnissen vgl. die Artikel Fee und Feier in: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen / erarb. ... unter der Leitung von Wolfgang Pfeifer. - Berlin : Akademie-Verlag. - Bd. 1 (1989), S. 418 und 421. (zurück)
[7]
Das Grimmsche Wörterbuch enthält 274 mit fei... beginnende Eintragungen. Wenn nach dem hier vorgeführten Beispiel verfahren würde, ließen sie sich wohl sämtlich zu Fee in Verbindung setzen. (zurück)
[8]
Mit Ausnahmen: Im Hinblick auf die auflagenstarke Märchenproduktion des hier beteiligten Kreuz-Verlags sprach der kritische Märchenforscher Kurt Derungs 1998 von "Trivialliteratur" und "tonnenweisem Schund". Vgl. Offener Antwort-Brief an Herrn Wolfdietrich Siegmund, Telgte / Kurt Derungs. // In: Märchenspiegel. - 9 (1998),1, S. 25 - 26. Der erste Teil der polemischen Auseinandersetzung erschien in: Märchenspiegel. - 8 (1997),3, S. 70 - 73. (zurück)

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