In einem ersten Teil kommen die Aufgaben, die Entwicklung und der heutige Stand der Mediävistik zur Sprache (S. 23 - 149). Hier bietet der Band einen Überblick über den Stellenwert des Faches in der Gesellschaft, setzt sich mit dem Begriff Mittelalter und der Frage nach der Periodisierung, nach den Epochengrenzen auseinander. Weitere Gegenstände sind Mittelalterbild und Mittelalterforschung sowie ein Abriß der Geschichte des Faches bis zur Gegenwart. Dazu gehört auch eine verdienstvolle Skizze der deutschen und ausgewählter ausländischer Institutionen der Mittelalterforschung innerhalb und außerhalb der Universitäten, wobei allerdings wichtige Einrichtungen wie die DFG-geförderten Sonderforschungsbereiche gar nicht erwähnt werden (Näheres über die Arbeit zweier geisteswissenschaftlicher Sonderforschungsbereiche erfährt man stattdessen in den Kapiteln über Schriftlichkeit, Mündlichkeit und Zeichenhaftigkeit, S. 339 - 370).
Ein zweiter Teil befaßt sich mit neuen Ansätzen, Themen und Methoden des Faches bzw. der Fächer (S. 153 - 379). Einzelne Lücken in der Darstellung oder bei der erwähnten Literatur zu beklagen, scheint angesichts der oben angesprochenen Anlage wenig hilfreich. Sicherlich könnten zentrale Bereiche wie derjenige der Historischen Hilfswissenschaften und Quellenkunde (S. 153 - 173) auf mehr als knapp zwanzig Seiten angemessener behandelt werden. Die Lücken gerade in diesem Bereich, in dem z.B. das gesamte Feld der historischen Bildkunde nur gestreift wird und neue Hilfswissenschaften weitgehend fehlen, zeigen eben auch den Stellenwert dieser klassischen Arbeitsbereiche in der "modernen Mediävistik". An dem umfangreichen und anspruchsvollen Teil des Werkes haben neben Goetz auch die Hamburger Historikerin Hedwig Röckelein (über Psychohistorie und Mediävistik, S. 288 - 299) sowie sechs Teilnehmer eines von Goetz veranstalteten Oberseminars mitgewirkt, die jeweils namentlich gezeichnete Beiträge - etwa zu inhaltlichen Fragen (Konflikte als Thema in der modernen Mediävistik von Steffen Patzold, S. 198 - 205, Schenken als historisches Phänomen von Lorenz Sebastian Benkmann, S. 206 - 212, Heiligenverehrung und Politik im Spiegel aktueller Forschungsinteressen von Jan-Marco Sawilla, S. 218 - 224) - beisteuerten. Auch zu den Abschnitten über Fragen der historischen Anthropologie und der Mediävistik als "Historische Kulturwissenschaft" haben die Seminarteilnehmer (Anja Romeikat: Hat Alltagsgeschichte Zukunft?, S. 310 - 318, Markus Späth: Neue Impulse für die consuetudines-Forschung?, S. 344 - 349 und Elke Petter: Die methodischen Zugriffe auf die Mündlichkeit im Mittelalter, S. 353 - 359) beigetragen. Besonders erfreulich dabei: Ihre Kapitel fallen gegenüber den restlichen Teilen weder sprachlich noch inhaltlich ab und bilden keine Fremdkörper in dem durchweg flüssig geschriebenen Band.
Den Abschluß des zweiten Teils bildet eine Schilderung der Kontroverse
um Johannes Frieds Der Weg in die Geschichte;[2] hier werden die
Positionen der streitenden Fachkollegen dargestellt ohne einseitig
Partei zu ergreifen. An der Auseinandersetzung um Frieds
unkonventionell verfaßten Band zeigt Goetz veränderte
Geschichtssichten und damit verbundene neue Formen der
wissenschaftlichen Darstellung. Schließlich versucht Goetz in einer
conclusio (S. 380 - 389) die Frage zu beantworten: "quo vadis,
Mediaevista?" Die dabei zusammengetragenen Kennzeichen heutiger
Mediävistik sind unter anderem das Durchbrechen methodischer Grenzen,
die Vielfalt der Themen und Ausrichtungen, das gesteigerte
Problembewußtsein z.B. hinsichtlich der Multikausalität historischer
Prozesse. Zu Recht begreift Goetz die heutige Aktualität des
Mittelalters, die "anthropologischen Vergleichbarkeiten" und
"Gegenwartsbezüge" (S. 388) als Chance, das neue Mittelalterbild, die
moderne Mediävistik offensiv zu vertreten. Noch wichtiger - auch über
das Fach hinaus - dürfte allerdings die von ihm ebenfalls
angesprochene Möglichkeit sein, im Anderssein, im Fremden, in der
Alterität des Mittelalters Denkmodelle für den Vergleich mit
Phänomenen der Gegenwart zu entdecken.
Das durch zuverlässige Sach- und Personenregister erschlossene Werk
vermittelt einen vertieften Einblick in die Geschichte und vor allem
in den heutigen Stand der historischen Mittelalterforschung.[3]
Angesichts der Vielgestaltigkeit und Unüberschaubarkeit des
behandelten Themenkomplexes darf der Band als wichtige
Orientierungshilfe in erster Linie für Studierende und
Universitätsangehörige (auch aus den benachbarten Fächern) gelten. Der
Band sollte in historisch orientierten Spezialbibliotheken ebenso wie
in Universitäts- und in entsprechenden Fachbereichsbibliotheken
vorhanden sein; es liegt nahe, an eine gestaffelte Aufnahme in
Lehrbuchsammlungen zu denken.
Johannes Mangei
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