Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 9(2001) 2
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Handwörterbuch der Sexualwissenschaft


01-2-508
Handwörterbuch der Sexualwissenschaft : Enzyklopädie der natur- u. kulturwissenschaftlichen Sexualkunde des Menschen / hrsg. von Max Marcuse. - Neuausg. / mit einer Einl. von Robert Jütte. [Nachdruck der 1926 ersch. ... 2., stark verm. Aufl.]. - Berlin [u.a.] : de Gruyter, 2001. - XXX, 822 S. : Ill. ; 27 cm. - ISBN 3-11-017038-8 : DM 99.90, EUR 49.95
[6427]

Die Praxis des Verlags de Gruyter, Standardwerke aus seinem reichen Fundus zu günstigen Preisen neu zu vermarkten, manifestiert sich in zwei Formen: zum einen als broschierte Sonderausgaben von Werken, die in der Originalausgabe weiterhin lieferbar sind,[1] zum anderen in Nachdrucken mit neuem Vorwort. Letzteres Verfahren scheint, wenn sich der Rezensent nicht sehr täuscht, steigende Tendenz aufzuweisen. Bereits das 1987 nachgedruckte und weiterhin lieferbare Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens[2] war ein Beispiel für diese Verlagspolitik. Von den im Jahr 2001 erschienenen Nachdrucken sei nur Erich Auerbachs Buch Dante als Dichter der irdischen Welt[3] erwähnt, das als einer der Meilensteine der deutschen Dante-Philologie nicht "überholt" ist. Anders steht es um die Fakteninformation eines Nachschlagewerks wie des Handwörterbuchs der Sexualwissenschaft (HdS), das man natürlich heute nicht mehr in dieser Funktion nutzen wird, sondern ebenso wie das gleichfalls 2001 nachgedruckte Werk von Magnus Hirschfeld über Die Homosexualität des Mannes und des Weibes[4] als Quelle, die für die führende Rolle, die Deutschland in der jungen Disziplin der Sexualwissenschaft spielte, Zeugnis ablegt, und die dann mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten abrupt endete. Der Geschichte der Sexualwissenschaft in der Weimarer Republik (S. V - VI) einschließlich ihrer Vorgeschichte seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert ist mit Namen wie Richard von Krafft-Ebing (1840 - 1902), Iwan Bloch (1872 - 1922) und dem bereits erwähnten Magnus Hirschfeld (1868 - 1935) verbunden, die jedoch heute im Gegensatz zu Sigmund Freud nur den Spezialisten vertraut sind.[5] Letzterer ist auch der berühmteste Mitarbeiter am HdS, für dessen erste Auflage 1923 er die Artikel Libidotheorie und Psychoanalyse beisteuerte, die auch in der zweiten, stark vermehrten Auflage von 1926 wieder erscheinen (S. 426 - 427 und S. 610 - 616). Während die Geschichte der Sexualwissenschaft in Deutschland vor 1933 in zahlreichen Publikationen der Nachkriegszeit als gut erforscht gelten kann (wichtige Titel nennt die Auswahlbibliographie auf S. XVI), werden in der Nachbemerkung (S. XVII - XIX) von Volker Gebhard bisher unbekannte Fakten[6] speziell zur Verlagsgeschichte des HdS vorgestellt. Das HdS kam mit dem Kauf des Originalverlags A. Marcus & E. Weber (der in zwei Tranchen erfolgte) 1930 an den Verlag Walter de Gruyter. Gebhard zeigt zudem, "daß es doch erstaunliche Freiräume und Lücken im Unterdrückungssystem der Nationalsozialisten gegeben hat, wenn man sich nur mit Argumenten zur Wehr setzte, wie dies der Verleger Dr. Herbert Cram tat" (S. XVII), dem es nicht nur gelang, das sexualwissenschaftliche Verlagsprogramm mit Genehmigung der zuständigen Behörden im Programm zu halten, sondern auch, nachdem die Restbestände des HdS 1937 beschlagnahmt worden waren, 1938 deren Freigabe und weiteren Vertrieb (unter Auflagen[7]) zu erreichen. Wir erfahren auch von der Absicht des Zürcher Albert-Müller-Verlags, das HdS zu übernehmen und in einer vollständig überarbeiteten, dritten Auflage herauszubringen, einer Absicht, von der er dann im selben Jahr 1938 "'so wie die Dinge auf dem deutschen Buchmarkt heute liegen'", wieder Abstand nahm. Der Herausgeber des HdS und zugleich einer der Beiträger mit den meisten Artikeln, Max Marcuse (1877 - 1963)[8] emigrierte 1933 nach Palästina, ohne weiter zu publizieren. Erst drei Jahrzehnte später und ein Jahr vor seinem Tod erschien dann u.d.T. ABC-Führer durch Sexualität und Erotik[9] ein populäres Aufklärungsbuch in einem einschlägigen Verlag. Aber da waren schon andere Zeiten angebrochen, wenn man bedenkt, mit welch betulicher Vorsicht Marcuse sich im Vorwort zur zweiten Auflage vor dem Verdacht verwahrt, das HdS könne "mit anderen als wissenschaftlichen Interessen" gelesen oder gar durch die neu hinzugekommenen Abbildungen "unsachlicher Verwertung" ausgesetzt sein. Wie weit wir es in dieser Hinsicht heute gebracht haben, davon legt ein Werk wie das nachstehend besprochene Lexikon des Sadomasochismus Zeugnis ab.

Klaus Schreiber


[1]
Z.B. Theologische Realenzyklopädie. - Studienausg. - Berlin [u.a.] : de Gruyter. - (de-Gruyter-Studienbuch). - Teil 1. Bände 1 - 17 und Registerband. - 1993. - ISBN 3-11-013898-0 : DM 1196.00, EUR 598.00. - Teil 2. Bände 18 - 27 und Registerband. - 1999. - ISBN 3-11-016295-4 : DM 796.00, EUR 398.00. (zurück)
[2]
Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens / hrsg. von Hanns Bächtold-Stäubli ... Mit einem Vorw. von Christoph Daxelmüller. - Unveränderter photomechan. Nachdr. der Ausg. ... 1927 - 1942. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1987. - Bd. 1 - 10 ; 25 cm. - ISBN 3-11-011194-2 : DM 358.00 [0295]. - Rez.: ABUN in ZfBB 34 (1987),6, S. 534 - 541. (zurück)
[3]
Dante als Dichter der irdischen Welt / Erich Auerbach. Mit einem Nachwort von Kurt Flasch. - 2. Aufl. - Berlin [u.a.] : de Gruyter, 2001. - 237 S. : ISBN 3-11-017039-6 : DM 39.90, EUR 19.95. (zurück)
[4]
Die Homosexualität des Mannes und des Weibes / Magnus Hirschfeld. - 2., um ein Vorwort von Bernd-Ulrich Hergemöller erg. Neuaufl. der Erstausg. von 1914. - Berlin [u.a.] : de Gruyter, 2001. - 1068 S. - ISBN 3-11-017251-8 : DM 99.90, EUR 49.95. (zurück)
[5]
In Marcuses wiederum abgedrucktem Vorwort zur 2. Aufl. erwähnt er, daß die Mitarbeiterin "Frau Dr. Hug-Hellmuth leider schon nicht mehr unter den Lebenden (weilt). Am Tage nach dem Eingang ihrer Manuskripte traf beim Herausgeber die Kunde von ihrer Ermordung ein ..." (S. XXIV - XXV). Die sich darauf richtende Neugier des Lesers, der gleich an ein politisches oder rassistisches Verbrechen denkt, befriedigt Jütte leider nicht, obwohl er sonst auf die weiteren Schicksale der wichtigeren Mitarbeiter eingeht. Die Lösung des Rätsels fällt freilich wenig spektakulär aus, wurde Hermine Hug-Hellmuth doch am 9. September 1924 "von ihrem achtzehnjährigen Neffen in ihrer Wohnung in Wien ermordet" (vgl. Biographisches Lexikon der Psychoanalyse : die Mitglieder der Psychologischen Mittwoch-Gesellschaft und der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung 1902 - 1938 / Elke Mühlleitner. Unter Mitarb. von Johannes Reichmayr. - Tübingen : Edition Diskord, 1992. - 400 S. ; 22 cm. - ISBN 3-89295-557-3 : DM 74.00 [4343]. - Rez.: IFB 99-B09-675. - Artikel Hermine Hug-Hellmuth S. 163 - 164). (zurück)
[6]
Er kann dabei auf zwei Publikationen zur Geschichte des Verlags de Gruyter zurückgreifen, die in IFB 99-1/4-113 - 114 besprochen wurden:
Der Verlag Walter de Gruyter 1749 - 1999 : [Begleitband zur Ausstellung "Der Verlag Walter de Gruyter 1749 - 1999" in der Staatsbibliothek zu Berlin, Haus unter den Linden, 30. Sept. - 20. Nov. 1999] / Anne-Katrin Ziesak. Mit Beitr. von Hans-Robert Cram ... - Berlin [u.a.] : de Gruyter, 1999. - XII, 291 S. : Ill. ; 25 cm. - ISBN 3-11-016698-4 (Gb.) : DM 30.00 - ISBN 3-11-016740-9 (brosch.) : DM 18.00 [5751].
Repertorium der Briefe aus dem Archiv Walter de Gruyter / ausgew. von Otto Neuendorff. Bearb. von Anne-Katrin Ziesak. - Berlin [u.a.] : de Gruyter, 1999. - XI, 454 S. ; 25 cm. - ISBN 3-11-016521-X : DM 148.00 [5752]. (zurück)
[7]
Dazu gehörte die bereits 1933 vom Verlag geforderte Erklärung des Käufers, daß er das Werk "'zum ernsthaften wissenschaftlichen Studium benötigt'" (S. XVII). (zurück)
[8]
Er ist sowohl in der NDB vertreten, als auch in der Deutschen biographischen Enzyklopädie. Deren Kurzartikel nennt unter seinen Publikationen nur den nachstehend erwähnten ABC-Führer, nicht dagegen das HdS: ein weiterer Beweis für die Leichtfertigkeit, mit der die DBE aus ihren Quellen kompiliert. (zurück)
[9]
ABC-Führer durch Sexualität und Erotik / Max Marcuse. - Flensburg : Stephenson, 1962. - 175 S. (zurück)

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