Eine prinzipielle Schwäche der "offiziellen" Nationalbiographien liegt
in ihrer sich über Jahrzehnte erstreckenden Publikationsgeschichte,
und es leuchtet ein, daß die Auswahlkriterien des ausgehenden 19.
Jahrhunderts sich nicht unbedingt mit den Interessen des ausgehenden
20. Jahrhunderts decken. Das ist nicht zuletzt der Grund dafür, daß
vor allem seit den achtziger Jahren neue, aus den Quellen gearbeitete
biographische Nachschlagewerke erschienen sind, die die derzeit
maßgeblichen Biographien für bestimmte Personengruppen enthalten, die
in den Nationalbiographien unterrepräsentiert sind. Dabei ist
insbesondere an Wirtschaftsführer,[3] an Vertreter der Arbeiterklasse,[4]
an "Radikale" aller Couleur[5] und nicht zuletzt an Frauen[6] zu denken,
Personengruppen, denen jedoch - nicht nur in Großbritannien
- zunehmend spezielle biographischen Nachschlagewerke gewidmet werden.
Um zumindest einem Teil dieser Personen wenigstens nachträglich zur
Würde der Berücksichtigung in der Nationalbiographie zu verhelfen,
erscheint jetzt der Sonderband Missing persons zum DNB. Den an
Biographien interessierten Lesern des Times literary supplement - und
das dürften nicht wenige sein, läßt sich doch nur so die Tatsache
erklären, daß das TLS nicht nur jeden neuen Band des DNB rezensiert,
sondern sogar jährlich erscheinende kurzbiographische
Nachschlagewerke, was beides in Deutschland unvorstellbar ist - war
vermutlich die unter der Überschrift "DNB Omissions" am 21.07.1989, S.
799 veröffentlichte Bitte um die Namhaftmachung solcher Personen nicht
entgangen, die in den bisher erschienenen Bänden des DNB - aus welchen
Gründen auch immer - nicht berücksichtigt worden waren, obwohl man das
eigentlich hätte erwarten können. Dieser Aufruf, der auch in anderen
Zeitschriften erschien, hat lt. Vorwort überwältigenden Erfolg gehabt:
über 100.000 Vorschläge gingen ein, gleichfalls eine Zahl, die
hierzulande völlig undenkbar wäre; ebenso undenkbar wäre es, daß alle
diesbezüglichen Vorschläge, die seit Beginn des DNB eingegangen waren,
nicht nur aufgehoben, sondern aus dem gegebenen Anlaß geprüft wurden.
Die Aufgabe der Sichtung aller Vorschläge übernahmen vier beratende
Herausgeber, die für die Epochen bis 1500, von 1501 - 1700, 1701
- 1850 und von 1851 - 1985 zuständig waren. Von den insgesamt 1.086
berücksichtigten Personen entfallen - nach dem Geburtsjahr - auf diese
Zeiträume folgende Anteile: 95, 215, 443 und 333. Die einleitend
genannten Personengruppen sind besonders berücksichtigt, daneben,
gerade für die ältere Zeit, auch zahlreiche bildende Künstler und
Musiker. Ein Register nach "Berufen" (innerhalb im Alphabet der Namen
mit Geburts- und Todesjahr) ermöglicht erstmals einen leichten
Überblick, obwohl nicht klar ist, wie die Begriffe geordnet sind
(jedenfalls nicht alphabetisch); den Abschluß bildet "Secret Service"
mit immerhin dreizehn Namen, darunter auch demjenigen des
Sowjetagenten Guy Burgess. In diesem Fall kann man noch am ehesten
vermuten, daß er ursprünglich als "Landesverräter" ausgeschlossen
worden war, während die Masse der erst jetzt zu den Ehren des DNB
Gekommenen in die oben beschriebenen Kategorien fallen bzw. erst durch
neuere Forschungen in ihrer Bedeutung erkannt wurden. Die gut 600
Mitarbeiter, mit deren Namen die Artikel gezeichnet sind, haben ganz
überwiegend jeweils nur einen Artikel beigesteuert, was an sich schon
dafür spricht, daß hier Spezialisten gewonnen werden konnten. Zu
hoffen ist, daß der seit 1985 angekündigte Chronological and
occupational index to the DNB, der alle Bände des DNB erschließen
soll, bald erscheinen möge; die letzte Auskunft des Verlages läßt auf
Ende 1993 hoffen.
Freilich kann auch der Sonderband Missing persons nichts an der
Tatsache ändern, daß das Grundwerk des DNB dem Geiste des 19.
Jahrhunderts verpflichtet ist. Während, um auf den einleitenden
Vergleich mit der deutschen Nationalbiographie zurückzukommen, die ADB
- wenn auch langsam - durch die NDB zumindest für die dort erneut
behandelten Namen ersetzt wird, so ist man für Großbritannien
weiterhin auf die alten Artikel im DNB angewiesen, so daß man für
Namen, die in den oben erwähnten ergänzenden Spezialbiographien
behandelt sind, besser gleich zu diesen greift. Hierin ist jedoch
mittelfristig eine Besserung zu erwarten, wird doch, wie einer
Leserzuschrift an TLS vom 15. 01. 1993, S. 17 zu entnehmen ist,
bereits am New dictionary of national biography gearbeitet, das statt
ca. 37.000 Namen deren ca. 50.000 enthalten soll, wobei die alten
Artikel teils revidiert, teils völlig neu geschrieben werden sollen.
Wie weit die Arbeiten gediehen sind, wird nicht gesagt, doch spricht
die in der Zuschrift enthaltene Aufforderung, Verbesserungsvorschläge
einzureichen und zusätzlich zu berücksichtigende Namen zu benennen,
verbunden mit dem Aufruf zur Mitarbeit, eher dafür, daß das ganze
Unternehmen noch in der Planungsphase steckt.
sh
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