Die italienischen Zeichnungen der Albertina sollen in vier Bänden bis 1995/96 vollständig erschlossen werden; der vorliegende erste Band erfaßt mit 1200 Blätter rund ein Viertel des Bestandes. Eine weitere, von Barbara Dossi und Janine Kertész betreute Sonderpublikation wird auf die Provenienzen und damit auf einen bisher unerforschten Aspekt zur Vorgeschichte der Sammlung eingehen. Der im Zusatz zum Sachtitel verwendete Begriff Generalverzeichnis läßt erkennen, daß es sich nicht um einen Katalog im herkömmlichen Sinn, sondern um den Versuch der Erschließung des Gesamtbestandes der italienischen Zeichnungen der Albertina in der Form eines Inventars handelt. Von den großen graphischen Sammlungen ist bisher einzig das Gabinetto Disegni e Stampe degli Uffizi zu einem vergleichbaren Verfahren übergegangen und dessen Inventario[1] ist seit 1986 bereits auf drei Bände angewachsen. Wie an den Uffizien entschloß man sich an der Albertina aus Gründen der wissenschaftlichen Objektivität, auf eine Präsentation der Zeichnungen nach Schulen, Epochen oder Künstlern mit allen ihren Unsicherheiten in den Zu- und Abschreibungen zu verzichten und stattdessen die (in Wien ab 1895 eingeführten) Inventarnummern als Leitfaden für den Aufbau des Verzeichnisses zu wählen. Denn die Inventarnummern bieten - so begründet Veronika Birke im Vorwort (S. XI - XII) den Entschluß zu dieser vergleichsweise wenig anschaulichen und darum sicher bei manchen auch auf Ablehnung stoßenden Präsentation - eine eindeutige Information und sind die "unzweifelhafteste Identifizierung eines Blattes". Die am Schluß des Bandes beigefügten Verzeichnisse der Künstler und der alternativen Zuschreibungen erlauben es dann dem Benutzer, sich den Bestand auch auf dem traditionellen Weg zu erschließen.
Die Entscheidung zur Erstellung eines Inventars wurde durch die den
heutigen Anforderungen ungenügende Erschließung der italienischen
Schule begünstigt. 1891 und 1892 veröffentlichte Franz Wickhoff in
einer kunsthistorischen Fachzeitschrift das erste Verzeichnis.[2] Es
folgt der vorgefundenen, auf den Gründer der Albertina - Herzog Albert
von Sachsen-Teschen (1738-1822) - zurückgehenden Anordnung der Blätter
und bringt nur knappe Informationen sowie fast keine Abbildungen. Der
Übergang der Sammlung aus fürstlichem in staatlichen Besitz im Jahr
1920 bot die Gelegenheit für eine "rücksichtslose und der Erkenntnis
der Wissenschaft gehorchende" Neuordnung. Im Vertrauen auf die
Stilkritik wurden die italienischen Zeichnungen in eine sog. "erste"
und "zweite Garnitur" geschieden. Die Schausammlung umfaßte "nur
Originalzeichnungen, das heißt Entwürfe, Skizzen, auf eigenen
Einfällen beruhende Zeichnungen der Künstler"; diese allein waren
Gegenstand der 1926 - 1941 erschienenen Bände 1, 3 und 6 des
Beschreibenden Katalogs der Handzeichnungen,[3] wohingegen die übrigen,
in eine Studiensammlung eingebrachten Blätter unpubliziert blieben.
Durch seine bereits erwähnte Struktur revidiert das Generalverzeichnis
diese Entscheidung und widmet jedem Blatt dieselbe Aufmerksamkeit in
Wort und Bild. Es trägt damit neuen Bedürfnissen der kunsthistorischen
Forschung Rechnung, bei denen Fragen nach der Autorschaft nur von
bedingter Bedeutung sein können. Zwei Konkordanzen, nämlich zwischen
Wickhoff- bzw. Stix- und Inventar-Nummern - geben außerdem dem
Benutzer die Gelegenheit, anhand der Abbildungen die von dem Gründer
mit der Sammlung intendierte "Bilderenzyklopädie" in Zeugnissen von
sämtlichen Schulen und allen Künstlern visuell zu rekonstruieren.[4]
Konkret ist das Generalverzeichnis ein 'Abfallprodukt' der 1986
begonnenen Vorarbeiten Veronika Birkes für ihren 1991 als Buch
erschienenen Versuch, eine Geschichte der Zeichnung in Italien anhand
der in der Albertina aufbewahrten Blätter zu schreiben. Grundlage für
dieses von dem amerikanischen Sammler Ian Woodner (1903 - 1990)
geförderte Projekt war die Sichtung des gesamten Bestandes an
Zeichnungen der italienischen Schulen; diese war um so notwendiger,
als eine auf den aktuellen Stand gebrachte Dokumentation zu jedem
einzelnen Blatt nicht vorhanden war. Diese "Inventur" fand zum ersten
Mal an einem österreichischen Museum mit Hilfe der EDV statt.[5] In die
in der Folge angelegte Datenbank wurden zunächst die genannten
Verzeichnisse von Wickhoff sowie die drei Bände des Beschreibenden
Katalogs übertragen. Sodann wurden die seit dem Ende des Zweiten
Weltkriegs veröffentlichten Ausstellungskataloge der Albertina
aufgenommen, so daß auf diese Weise erstmals ein großer Teil der seit
1945 in Veröffentlichungen der Albertina gedruckt erschienenen
Informationen einschließlich der dort angeführten bibliographischen
Nachweise zusammengeführt worden waren. Weiterhin wurde jedes einzelne
Blatt in Autopsie auf seine Maße, die verwendeten Techniken, die
Sammlermarken, die Beschriftungen und das dargestellte Sujet überprüft
und gleichzeitig eine Fotothek aufgebaut. Diese in ca. fünf Jahren
zusammengestellte Datenbank erwies sich bald als eine ebenso ergiebige
wie unentbehrliche und zeitersparende Informationsquelle, daß mit dem
Entschluß zum Verzicht auf Vollständigkeit der Informationen und der
inzwischen angesammelten bibliographischen Nachweise (Vorwort, S. XI)
an eine Veröffentlichung gedacht werden konnte.
Die einzelnen Bestandteile des für jeden Eintrag gewählten Formulars
sind im Druck durch Leerzeilen und die Verwendung verschiedener
Schriften und Schriftgrade voneinander abgesetzt und somit
benutzerfreundlich aufbereitet. Auf die Inventar-Nummer, die
ursprüngliche Aufstellungs-Nummer und die Nummer des Negativs im
Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek folgen Angaben zum
Autor, zum Bildthema, zu den verwendeten Techniken, dem
Erhaltungszustand, den Maßen und den Beschriftungen. Es schließen sich
eine Aufreihung der verschiedenen Zuschreibungen unter namentlicher
Nennung des jeweiligen Urhebers sowie ein Literaturverzeichnis mit
vorangestellten Nachweisen zu druckgraphischen Umsetzungen an. Den
Abschluß bildet ein hilfreicher Kurzkommentar, in dem nicht die
offenen wissenschaftlichen Fragen diskutiert, sondern vielmehr
"Tatbestände" (Vorwort, S. XII) vorgestellt werden, vor allem
Querverweise auf bildliches Vergleichsmaterial (erschließbar durch ein
topographisches Register) und Hinweise auf die Funktion der Zeichnung
mit den relevanten Literaturangaben.
Das Literaturverzeichnis und der Kurzkommentar im Generalverzeichnis
bieten sich an, um bei allen Übereinstimmungen mit dem Inventario der
Uffizien in Struktur und Formular einige wesentliche Unterschiede
zwischen diesen beiden Werken bzw. die Vor- und Nachteile ihrer
Benutzung hervorzuheben. Im Inventario wird die lückenlose Anführung
aller direkten und indirekten Verweise auf ein Blatt in den seit der
zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts angelegten, handschriftlich oder
gedruckt überlieferten Inventaren und Katalogen angestrebt; dasselbe
gilt für die Eintragungen in Ausstellungskatalogen. Eine
vergleichbare, auf die Sammlung bezogene Dokumentation[6] wird im
Generalverzeichnis nicht versucht; bewußt konzentrieren sich die
Autorinnen auf die Kataloge der in der Albertina und in anderen
Institutionen veranstalteten Ausstellungen sowie auf die
Sekundärliteratur der letzten Jahrzehnte. Der Benutzer wird also in
den aktuellen Forschungsstand eingeführt, ist aber darauf angewiesen,
die vor dem Zweiten Weltkrieg erschienene Literatur zu einem Blatt und
zu der Sammlung selbständig zu ermitteln. Durch den Kurzkommentar, der
im Inventario ebenso fehlt wie die Literaturangaben, erhält er
darüberhinaus weiterführende Hinweise. Während das Inventario primär
eine Zusammenstellung der den Sammlungsbestand betreffenden Dokumente
und somit einen Beitrag zur Erforschung der Sammlungsgeschichte
bringt, ist das Generalverzeichnis als Zusammenführung von
wesentlichen und aktuellen Informationen zu den Zeichnungen
konzipiert.
In Verbindung mit der neben jedem Eintrag stehenden
Schwarzweißabbildung eines Blattes (bzw. den Abbildungen von Vorder-
und Rückseite), die durchweg von guter Qualität und angemessenem
Verkleinerungsmaßstab sind, liegt mit dem Generalverzeichnis ein
leicht benutzbares Nachschlagewerk vor, das in seiner Anlage und
seinem Informationsangebot allerdings auf den Spezialisten und den
Forscher zugeschnitten ist. Mit der Fülle der erstmals
zusammengeführten Daten, der dabei neu gewonnenen Erkenntnisse sowie
der erstmals veröffentlichten Zeichnungen wird es zur Grundlage und
zum Ausgangspunkt zukünftiger Forschungen werden.
Erst im Zusatz zum Sachtitel ihres 1991 veröffentlichten Buches gibt
Veronika Birke ihr eigentliches Thema preis: Die italienischen
Zeichnungen der Albertina werden als 'Illustrationen' einer Geschichte
der Zeichnung in Italien 'benutzt'. Diese ungewöhnliche Begrenzung auf
das in einer einzigen Sammlung aufbewahrte Material (aus der sich auch
der Abbruch des Buches mit dem Klassizismus zur Gründungszeit der
Albertina erklärt) rechtfertigt die Autorin mit dem Sammlungskonzept
Herzog Alberts. Sie beabsichtigt, die von ihr ausgewählten
Zeichnungen, die "in künstlerischer Hinsicht der europäischen
Geistesgeschichte Ausdruck verleihen", "gleich 'Bildern einer
Ausstellung' so zu plazieren, daß größere Zusammenhänge und einzelne
Künstler faßbarer werden" (S. 8). Das Buch wendet sich an den
interessierten Laien, der in einem verständlich geschriebenen und
durch Überschriften in kurze Absätze gegliederten Text die
verschiedenen Schulen und ihre Vertreter vorgeführt bekommt, auf die
unterschiedlichen und sich wandelnden Funktionen der Zeichnung
hingewiesen wird und dem Entwicklungen und stilistische Veränderungen
aus dem zeitgenössischen Kontext heraus zu erklären versucht werden;
dagegen hat es nur wenige Anmerkungen und nur ein knappes
Literaturverzeichnis ausschließlich zu den Werken, in denen die
besprochenen Zeichnungen behandelt werden, während Hinweise auf
weiterführende Literatur zum geistesgeschichtlichen Hintergrund
fehlen. Die zum Teil farbigen Abbildungen von 267 Blättern aus dem
gesamten Bestand stellen wegen ihrer hervorragenden Qualität eine
ideale Ergänzung zum Generalverzeichnis dar.[7]
Der schlanke Buchrücken des Katalogs zur englischen Schule verrät, daß
es sich bei den Aquarellen und Zeichnungen der britischen Künstler nur
um einen "schmalen Nebenbestand" (so Konrad Oberhuber im Vorwort)
handeln kann. Die 138 Blätter werden in drei, der Sammlungsgeschichte
folgenden Abschnitten beschrieben (Teil I: Erwerbungen durch Herzog
Albert; Teil II: Zugänge nach 1822; Teil III: Stiftung der
eigenhändigen Zeichnungen Frank Brangwyns von 1914), nach Künstlern
alphabetisch geordnet kommentiert und in ganzseitigen, oft farbigen
Abbildungen reproduziert. Auf diese Weise werden bisher
unveröffentlichte Zeichnungen von meist wenig bekannten Künstlern
zugänglich gemacht; es stellt sich dabei aber die Frage, ob die
aufwendige Aufmachung des Bandes im rechten Verhältnis zur Qualität
der Objekte steht.
Christine Sauer
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