Die St. James Press legt nun ebenfalls ein Komponistenlexikon vor mit dem Anspruch, die international bedeutenden Komponisten der Gegenwart mit ausführlicher Würdigung von Leben und Werk zu verzeichnen. Contemporary composers kann man getrost als Fortschreibung des Ewen lesen. Mit seinen 500 Artikeln ersetzt es zwar den Ewen in keiner Weise, es verzeichnet aber aufgrund des zehn Jahre jüngeren Erscheinungsdatums auch Komponisten, die heute um die dreißig Jahre alt sind und die erst in der letzten Dekade öffentlich zu wirken begannen. Die Artikel sind zweispaltig gesetzt, alphabetisch geordnet und leicht über die Kopfzeile recherchierbar. Zur raschen Übersicht dient ein alphabetisches Verzeichnis der behandelten Komponisten. Die Artikel - in der Regel drei bis fünf Spalten lang und namentlich gezeichnet - bieten eine Vielzahl von Informationen: chronologischer Lebenslauf, Angabe der Postadresse, Nennung der Verleger, Werkverzeichnis nach Gattungen, Publikationen, Statements der Komponisten zu ihrem Werk, essayistische Werkkritik. Fett gesetzte Zwischentitel gliedern die einzelnen Abschnitte übersichtlich. Zwei Anhänge informieren unter Aufführung der Adressen über relevante Musikverlage der Welt sowie über Gesellschaften und Institutionen zur Förderung zeitgenössischer Musik in den einzelnen Ländern - beides natürlich in äußerst knapper Auswahl. Contemporary composers ist als Ergänzung zum Ewen zu benutzen, aber keineswegs als Ersatz: Beim Buchstaben A finden sich als Schnittmenge zwischen Ewen (16 Einträge) und Contemporary composers (17 Einträge) nur drei identische Komponistennamen. Aufgenommen, laut Vorwort, seien zwar "established figures" aller Nationen. Nach Stichproben ist jedoch, so scheint es, am gründlichsten der amerikanische Markt gesichtet worden; die z.Zt. bei Boosey & Hawkes verlegten Komponisten z.B. sind vollständig aufgenommen, die von deutschen Verlagen publizierten jedoch nur in enger, nicht unbedingt für die Repräsentanz der europäischen Avantgarde relevanter Auswahl. Dennoch, ein höchst nützliches, informatives und in den werkkommentierenden Teilen auch lesenswertes Kompendium. Die inkonsequente Umlautsetzung bei deutschen Titeln (mal gesetzt, mal nicht) ist zwar ärgerlich, aber bei dem ansonsten höchst positiven Gesamteindruck als Schönheitsfehler verzeihlich.
Auch die im Verlag Edition Text + Kritik erscheinende
Loseblattsammlung Komponisten der Gegenwart ersetzt beim
augenblicklichen Stand Ewen, Baker oder Contemporary composers
keineswegs. Layout und Aufbau orientieren sich an den anderen
Loseblattwerken desselben Verlages, die den Gebieten Literatur[4] und
Film[5] gelten. Die "vergleichsweise kurze Vorbereitungszeit von nur
zwei Jahren", die das Vowort entschuldigend anführt, sind dem
Grundwerk leider deutlich anzumerken. Nicht so sehr in der noch
relativ spärlichen Ausstattung der Artikel (gemessen an dem im Vorwort
verkündeten Anspruch) mit 1 Seite Biographie und 1 Seite
Werkbetrachtung. Dies wird sich, so ist zu hoffen, mit den
Nachlieferungen bessern[6]. Geplant sind ergänzend: Notentafel,
Werkverzeichnis, Auswahldiskographie und Auswahlbibliographie.
Vielmehr enttäuscht die heterogene Qualität der Besprechungen, auch
sie mit dem vollen Namen des Autors gezeichnet: zu einem großen Teil
feuilletonistisch im Ton, gelegentlich flapsig in der Sprache oder
gar, wo Klarheit Not täte - etwa bei der Erläuterung von Alban Bergs
Satztechnik, sprachlich verunklärend ("deren Wohllaut die Ambivalenz
der Dissonanz zwischen Versagen und Wollust, Leiden und Widerspruch
fühlbar macht") - reiner Sprachmüll, der allzu deutlich die
redigierende Hand eines Lektors vermissen läßt. Dagegen ergeht sich im
- sage und schreibe - 38seitigen Artikel über Isang Yun der Autor in
einer Mikroanalyse einzelner Werke, die ohne musiktheoretische
Vorkenntnisse nur mühsam verständlich wird. Ebenso ist das
Komponistenangebot, auch nach der zweiten Nachlieferung, noch höchst
unbefriedigend. Noch immer sucht man Aaron Copland vergeblich, ohne
den die Musik eines Leonard Bernstein (der verzeichnet ist) nicht zu
denken wäre, dafür aber ist Theodor W. Adorno zu finden, als Komponist
eindeutig und unbestritten von marginaler Bedeutung; ebenso stößt der
Leser als Kuriosum beim Blättern auf den fiktiven Komponisten Otto
Jägermeier, der sich bekannterweise schon als ein Kuckucksei im
Riemann-Musik-Lexikon erwies. Die Defizite in der Verzeichnung werden
sich freilich wohl, so ist ebenfalls zu hoffen, mit den
Ergänzungslieferungen verringern. Vergleicht man beim augenblicklichen
Informationsstand der Loseblattsammlung auch hier das Angebot unter
dem Buchstaben A mit dem von Contemporary composers und Ewen, so
ergibt sich folgendes Bild: Von den zusammengerechnet 44
zeitgenössischen Komponisten finden sich 11 ausschließlich nur in
Contemporary composers, 10 nur im Ewen und 8 nur in Komponisten der
Gegenwart. Nur ein einziger Komponist (Louis Andriessen) bildet die
Schnittmenge zwischen allen drei Nachschlagewerken. Stichproben
ergaben ein ähnliches Bild im weiteren Alphabet. Problematisch und für
den Benutzer ärgerlich ist die unterschiedliche Transliteration
kyrillischer Namen im europäischen und angelsächsischen Bereich. Hier
verweist Komponisten der Gegenwart im Inhaltsverzeichnis vorbildlich
auf andere mögliche Namensformen. Wer freilich Vjaceslav Art‰mov
(Eintrag in Komponisten der Gegenwart) in Contemporary composers
sucht, der findet diesen Komponisten nur - ohne jegliche Verweisung
- als Vyacheslav Artyomov.
In Bezug auf die Aktualität wird das Loseblattwerk wohl mit der Zeit
die anderen Lexika zum zeitgenössischen Musikschaffen mit
übernationalem und umfassendem Anspruch überflügeln, allein freilich
aufgrund der Quantität; bleibt nur zu hoffen, daß auf die sachliche
und sprachliche Qualität der Artikel künftig sorgfältiger geachtet
wird.
Von grundlegend anderem Anspruch ist das neue
Metzler-Komponisten-Lexikon. Auch dieses folgt in der Konzeption einem
verlagseigenen Vorbild, nämlich dem Metzler-Autoren-Lexikon[7] für
deutschsprachige Dichter und Schriftsteller. Die 340 Artikel behandeln
Komponisten vom Mittelalter bis heute, mit eindeutigem Schwerpunkt
beim 20. Jahrhundert. Auch hier, zur schnellen Recherche, eine
Kopfzeile, darunter, deutlich abgesetzt, der Name des Komponisten,
Lebensdaten, Geburts- und Sterbeort sowie jeweils ein Portrait. Den
Text beschließen, durch Piktogramme abgesetzt, Angaben zu gedruckten
Werken, zu Schriften, ein Werkverzeichnis, eine Bibliographie, ein
Verzeichnis der dem Komponisten gewidmeten Periodika und in Auswahl
Biographien und Sekundärschrifttum. Im Anhang finden sich
weiterführende Literatur, thematisch gegliedert, sowie ein hilfreiches
Personenregister, in dem auch Personen, die in den Artikeln nur
Erwähnung finden, aufgeführt werden. Primat der Darstellung ist
erklärtermaßen nicht die Biographie, sondern das "Komponieren der
Komponisten". Deshalb sucht man bei den Artikeln vergeblich einen
separaten biographischen Teil oder gar einen chronologischen
Überblick. Für diese Art Auskunft ist dieses Nachschlagewerk nicht
geeignet. Wer jedoch verstehen möchte, weshalb ein Komponist mit
seinen Werken zu seiner Zeit - oder retrospektiv gewertet - bedeutend
war bzw. ist, der greife zum Metzler. Trotz der Ankündigung im
Vorwort, vorwiegend "auf heute Entlegenes ... aufmerksam machen" zu
wollen und "auf (allzu) Bekanntes zu verzichten", finden sich
natürlich alle nach heutigem Verständnis wichtigen Vertreter der
musikgeschichtlichen Vergangenheit wieder. Problematisch bleibt auch
bei diesem anspruchsvollen und durchweg qualifiziert geschriebenen
Werk die unmittelbare Gegenwart; Udo Zimmermann fehlt, Bohuslav
Martinu sucht man vergeblich. Da sich die Auswahl jedoch am
repräsentativen Werkschaffen orientiert, an dessen Qualität oder
Originalität, ist die im Vergleich zu Contemporary composers und
Komponisten der Gegenwart zwangsläufig sehr begrenzte Auswahl zu
akzeptieren. Als primäres Kriterium zur Verzeichnung nennt das Vorwort
"künstlerische Qualität" und "historische Bedeutung". Auch wenn dies
für die zeitgenössische Musik wohl nicht immer so eindeutig zu
beantworten ist: es fehlt konsequenterweise Adorno und ebenso
konsequenterweise ist Copland vertreten.
Das Metzler-Komponisten-Lexikon ist ein Fachlexikon, das es versteht,
in seinen namentlich gezeichneten Artikeln die schwierige Balance
zwischen allgemeinverständlicher und dennoch wissenschaftlich präziser
Darstellung überzeugend zu wahren. Im eigentlichen Sinne ist dies kein
Lexikon für einen schnellen Informationsgewinn, schon eher ein kleines
und anspruchsvolles Studienwerk, weshalb ein zusätzliches
chronologisches Register nach dem Geburtsjahr der Komponisten nützlich
gewesen wäre. So hätte man dem interessierten Leser die Möglichkeit
gegeben, die einzelnen Kompositionsgeschichten auch chronologisch
lesend nachvollziehen zu können.
Reiner Nägele
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