Als Kriterien der Auswahl nennt der französische Herausgeber
"Bekanntheit und Kohärenz". Nun mag der schwer zu prüfende Anspruch
der Kohärenz für das französische Original mit einigem Wohlwollen
nachvollziehbar sein,[2] zur qualitativen Prüfung der Verzeichnung
jedoch ("umfassend" und "zuverlässig" laut Klappentext) ist es sicher
nicht tauglich, ebensowenig ist es das Argument der "Bekanntheit".
Pasquale Amato, Richard Bonelli, Louis Graveur, die bei Ewen[3] zu
finden sind, sucht man hier vergeblich, nach dem
Edward-Tarr-Brass-Ensemble, dem Raschr-Saxophon-Quartett oder dem New
Zealand Symphony Orchestra blättert man erfolglos. Einige Namen
französischer und osteuropäischer Interpreten, die in der
französischen Ausgabe aufgeführt sind, fehlen. Die Zahl der Einträge
ist dennoch beachtlich, ein gewisses unvermeidliches Defizit gegenüber
Speziallexika (für Dirigenten[4], Orchester[5], vor allem Sänger[6]) wäre zu
akzeptieren. Doch liest man die Artikel genauer, verdüstert sich das
Bild merklich. Die Texte sind zum größten Teil bei den identischen
Stichworten wörtlich aus dem französischen Original von 1982
übersetzt, was etwa bei Ivo Pogorelich zu dem Kuriosum führt, daß
dessen Biographie am Beginn der Karriere abbricht. Hinzu tritt die
Lust der Autoren, geschwätzig über Motive und künstlerische Neigungen
zu spekulieren. Ein Beispiel unter vielen: "Sein Repertoire reicht von
Ludwig van Beethoven bis Arnold Schönberg, wobei er immer alles in
Frage stellt und sich, ohne sich um Publikum und Erfolg zu kümmern,
mit jeder Komposition auseinandersetzt" (Alfred Brendel). Dieser nicht
nur durch die Übersetzung verschuldete unbeholfene Stil, der seine
Nähe zum französischen Idiom nicht leugnen kann, mag vielleicht nur
eine sprachliche Schwäche sein, doch es gibt auch im Faktischen
Trübungen. Der Bratschist des Melos-Quartetts heißt mal Hermann, mal
Herbert Voss; Jessye Norman gewann ihren karrierefördernden Wettbewerb
erst 1969 und nicht, wie das Lexikon schreibt, 1968; die Berganza
debütierte bereits 1957, nicht erst 1958 und sie ist eben nicht nur
Sopranistin, sondern ebenso für ihre bravourös gesungenen
Koloratur-Alt-Partien bekannt; "als Achtjährige", raunt das Lexikon
ganz privatim, "äußert sie den Wunsch, Sängerin zu werden", der
Artikel verschweigt dagegen ihren Geburtsnamen Teresa Vargas
beharrlich - was ja faktisch interessant gewesen wäre. Mag sein, daß
diese Stichproben nicht repräsentativ für das Ganze sind, aber sie
genügen, um Mißtrauen zu wecken, zumal es sich bei den Zitierten
keineswegs um zweitrangige Künstler handelt.[7] Solange freilich kein
dem Umfang nach vergleichbares und sorgfältiger gemachtes
Interpretenlexikon auf dem deutschen Markt existiert, wird der nur
flüchtig Information suchende Konzertbesucher dankbar in den
vorliegenden 1030 Seiten blättern.
Seinem Anspruch und seiner Anlage nach ist das Dizionario vergleichbar
mit dem sehr kritisch bewerteten Lexikon der Interpreten klassischer
Musik im 20. Jahrhundert. Die einzelnen Artikel haben einen ähnlichen
Umfang, und auch die Anhänge, die dem biographischen Teil folgen,
legen einen solch direkten Vergleich nahe. Je ein Verzeichnis der
Kammermusikensembles, der Kammerorchester, der Symphonieorchester,[8]
der Theaterorchester und Chöre bilden den Schlußteil des Buches. Im
Vergleich zum deutschen Lexikon fehlen allerdings die dort angehängten
diversen Register, und die Zahl der Einträge ist im Dizionario etwas
geringer, nämlich ca. 2000 gegenüber 2352 im deutschsprachigen
Nachschlagewerk. Das hat unterschiedliche Gründe. Das italienische
Nachschlagewerk ist ein erweiterter Auszug aus dem vielbändigen
Dizionario enciclopedico universale della musica e dei musicisti.[9] So
mag es sein, daß ein Künstler bereits im Dizionario enciclopedico
nicht verzeichnet ist (z.B. der in Italien geborene Tenor Franco
Ghitti), oder daß er zwar im "großen" Dizionario aufgeführt ist, aber,
aus welchem Grund auch immer, nicht in den vorliegenden Band
übernommen wurde (beispielsweise der italienische Cembalist Ruggero
Gerlin). Andererseits kennt das deutschsprachige Lexikon nur einen
Abbado (Claudio), das italienische dagegen vier (Michelangelo,
Marcello, Claudio, Roberto). Doch es wäre müßig, die Einträge im
einzelnen gegeneinander aufrechnen zu wollen. Daß das italienische
Lexikon tendenziell mehr italienische, und das deutschsprachige seiner
Herkunft gemäß mehr französische Interpreten berücksichtigt,
bestätigen Stichproben, ist aber als Feststellung trivial. Zudem
handelt es sich hierbei allermeist um solche Künstler, die im Ausland
bislang wenig oder gar nicht bekannt sein dürften. Gegenüber dem
Dizionario enciclopedico wurden in den vorliegenden Band 150
Interpreten neu aufgenommen, nach dem Urteil des Herausgebers "nuovi
talenti che si sono affermati in questi anni" (Vorwort), eine
Einschätzung, die für Thomas Zehetmair (geb. 1961) noch bedingt
nachvollziehbar ist, bei Marcello Viotti (geb. 1953) allerdings eher
befremdet.[10] Doch, wie gesagt, die quantitative Differenz im Vergleich
der beiden Lexika ist letzlich unerheblich. Was die Artikel im
Dizionario positiv auszeichnet, ist ihre strikte Konzentration auf das
Biographisch-Faktische, auf Ausbildungs- und Karrieredaten sowie
Highlights des Repertoirs womit es sich vorteilhaft von der nicht
selten unerträglichen Geschwätzigkeit des deutschsprachigen Lexikons
unterscheidet. Die Texte sind weitgehend identisch mit den Artikeln im
Dizionario enciclopedico, um wenige Sätze im Bereich der
Charakterisierung der künstlerischen Tätigkeit erweitert, da das
einbändige Lexikon bei komponierenden Künstlern etwa keine eigene
Rubrik "Werkverzeichnis" kennt. Das Interesse gilt beim "kleinen
Bruder" ja vorrangig dem interpretatorischen Wirken. Demzufolge - und
für den Nutzer erfreulich - schließt sich den meisten Artikeln eine
Diskographie an, allerdings nur der CD-Veröffentlichungen. Diese
Rubrik ist nicht selten umfangreicher als es die Texte selbst sind.
Bei Bühnenwerken werden sogar die weiteren Rollenbesetzungen mit
aufgeführt. Einziges nennenswertes Defizit gegenüber dem
deutschsprachigen Pendant ist das Fehlen der dort vorhandenen
Interpreten-Register. Diese hätten bei dem sehr solide gemachten
italienischen Lexikon auch einen nützlichen sachlichen Zugriff über
die Instrumente oder die Stimmlage zugelassen.
Reiner Nägele
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