Die angestrebte Inklusivität, Offenheit und Interdisziplinarität des Nachschlagewerkes reicht jedoch bei weitem nicht an die vorbildlichen Standards heran, die inzwischen mit der gerade besprochenen Encyclopedia of language and linguistics (ELL) erreicht worden sind. U. a. ist die Schnittstelle zwischen Linguistik und Philosophie in der IEL schlechter besetzt als in der ELL; traditionelle, von der Semantik gepflegte Themen haben hier eindeutigen Vorrang. So findet sich etwa ein Artikel zur Kategorie der Temporality, doch fehlen beispielsweise Eintragungen zu A priori, Epistemology und Quantity. Ebenfalls nicht vorhanden sind hier - wiederum im Unterschied zur ELL - viele kommunikations- und medienwissenschaftlich relevante Artikel wie Comics, Film und Printing, history of. Dem von nahezu allen zeitgenössischen linguistischen Enzyklopädien - besonders im MLS - stark berücksichtigten Paradigma der "Materialität" und "Medialität" der Kommunikation wird somit nur unzureichende Aufmerksamkeit geschenkt. Auch die im Vorwort angekündigte Orientierung an der International encyclopedia of the social sciences[2] nur in den wenigsten Artikeln nieder. Immerhin zeigt sich zumindest ein erfreuliches, heute aber auch mit Recht zu erwartendes Bemühen um die anthropologische Konturierung linguistischer Positionen und Sachverhalte (dies ist besonders ausgepägt im MLS und in der IEL); dennoch kommt man aber kaum umhin, IEL eine gewisse Profillosigkeit vorzuwerfen.
Neben linguistischen Sachwörtern finden sich biographische Artikel und
- einem Trend der zeitgenösischen linguistischen Lexikographie folgend
- Beiträge zu einzelnen Sprachen, Sprachgruppen und -familien.[3] Als
gravierendstes Defizit erweist sich hierbei ein eklatantes
Ungleichgewicht zwischen den oft äußerst knapp gehaltenen Artikeln zu
linguistischen Termini - die, so gehaltvoll sie im Einzelfall auch
sein mögen, den Informationsstandard eines Sachwörterbuchs in der
Regel kaum übertreffen - und den deutlich umfangreicheren Beiträgen zu
den Sprachen, Sprachgruppen und -familien. Nicht selten scheint man
- entgegen den durch den Titel der IEL geweckten Erwartungen - sogar
geneigt, eher von einer "Enzyklopädie der Sprachen" als von einer
"Enzyklopädie der Linguistik" sprechen zu wollen. Beispiele:
Adjectives und Questions werden mit jeweils etwa einer Seite bedacht,
der Artikel Basque hingegen umfaßt 7, der Beitrag German nahezu 8
Seiten. Der Artikel Case, in dem auch noch die Kasusgrammatik
behandelt wird, umfaßt gerade 1 Seite; zum Vergleich: Die ELL enthält
einen eigenen Artikel Case grammar von 11 Seiten.
Den informativen, mit instruktiven Sprachkarten illustrierten Artikeln
über Sprachfamilien sind überdies sog. Language lists beigefügt, die
zu allen Sprachen der jeweiligen Familie in kurzer Form "geographical,
statistical, nomenclatural, and sociolinguistic information" (S. XII)
bieten. Im Fall der Berber languages beispielsweise umfaßt die
Language list 32, im Fall der Pidgins and creoles 71 Eintragungen. IEL
will erreichen, "that data are available for all living languages of
the world, as well as for a selection of extinct languages" (S. XII).
Die Auswahl derjenigen Linguisten, die mit einem biographischen
Artikel gewürdigt werden, ist kaum nachvollziehbar. Wenn laut
Auswahlkriterium nur ausgewiesene Forscher mit paradigmatischem
Anspruch, zudem allesamt Verstorbene, mit einem eigenen Artikel
bedacht werden sollen, ist es dem Enzyklopädie-Nutzer kaum zu
vermitteln, daß etwa Roman Jakobson und Edward Sapir einen eigenen
Artikel erhalten, nicht aber Ferdinand de Saussure, der, wie andere
Sprachwissenschaftler auch, in einem anderen, nicht-biographischen
Artikel, in einem größeren wissenschaftshistoriographischen Kontext
gewürdigt wird (im Falle Saussures innerhalb des Artikels History of
linguistics, im Abschnitt Early structuralism).
Die bis auf wenige Ausnahmen gezeichneten, von insgesamt mehr als 400
Autoren verfaßten Artikel sind alphabetisch geordnet; in einigen
Fällen gibt es composite entries (Beispiel Morphology: an overview,
Morphology: morphological typology, Morphology: morphology and
phonology, Morphology: morphology and syntax). Ein effizientes Netz
von Verweisungen stellt die für ein alphabetisch organisiertes
Nachschlagewerk notwendigen Beziehungen zwischen den einzelnen
Artikeln her und dient der kontextstiftenden Orientierung und
Wissensorganisation. Die Artikel des zweispaltig gedruckten und
optisch ansprechenden Nachschlagewerkes sind mit hilfreichen
Auswahlbibliographien versehen, die auf rigoroser Selektion beruhen
und lediglich grundlegende weiterführende Literatur enthalten
(Beispiele: Machine translation und Address jeweils 5 Titel,
Generative grammar, 8 Titel).
Weitere Informations- und zusätzliche Zugriffsmöglichkeiten eröffnet
- für die rasche Konsultation gedacht und Kurzdefinzitionen bietend
- das Glossary von David Crystal (Bd. 4, S. 273 - 348); es basiert auf
den Dossiers zu Crystals Dictionary of linguistics and phonetics[4] und
auf Definitionen der IEL-Autoren. Es folgen: Directory of contributors
(S. 349 - 362), Synoptic outline of contents (S. 363 - 377) und ein
- Stichproben zufolge zuverlässiger - Index (S. 379 - 482), der
zugleich
Namens- und Sachregister ist. Die Synoptic outline of contents enthält
1. ein alphabetisch geordnetes Verzeichnis der Topic areas (S. 363
- 368) mit den dem Sachgebiet zugewiesenen, ebenfalls alphabetisch
geordneten Eintragungen, 2. eine Liste der Languages of the world (S.
368 - 372) in einem einzigen Alphabet, 3. ein Verzeichnis der Language
families and areas (S. 372 - 377), "alphabetical in terms of the
hierarchical language families" (S. 372).
Aufgrund der vorgetragenen Vorbehalte mag bezweifelt werden, ob sich
der Wunsch des Herausgebers, mit der IEL eine Lücke zwischen dem
kompakten, bündigen linguistischen Sachwörterbuch und der voluminösen
Großenzyklopädie zu schließen, erfüllen mag. Wenn der finanzielle
Rahmen es in irgendeiner Weise erlaubt, sollte sich jede
Universalbibliothek für den Erwerb von ELL entscheiden, und zwar
aufgrund des konsequenter realisierten interdisziplinären Ansatzes und
der damit verbundenen ungewöhnlich großen Inklusivität von Artikeln.
Der - aus dem Titel nicht erkennbare - beträchtliche Nutzen der IEL
als Sprachenlexikon soll damit gleichwohl nicht in Frage gestellt
werden.
Werner Bies
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