Die Beispiele belegen: 1. Da Autoren von Textgrammatiken sich nicht primär am Wort oder am Satz orientieren, sondern textbezogen argumentieren, konzentrieren sie ihre Aufmerksamkeit auf alle sprachlichen Mittel, die den Zusammenhang von Texten begründen und zu ihrer Profilierung und Konturierung beitragen. In der vorliegenden Grammatik werden daher die Strukturbeschreibungen der deutschen Sprache an textlinguistischen Konzepten wie 'Anaphorik', 'Kataphorik', 'Junktionen', 'Gesprächsrollen', 'Handlungsrollen', 'Horizont' und 'Fokus' (s. dazu "Grundbegriffe der Grammatik", S.17 - 27) ausgerichtet. Bei alledem verliert die ohnehin schon fragwürdige Grenze zwischen 'Grammatik' und 'Semantik' weiterhin an Bedeutung. - 2. Textgrammatiken stellen die kommunikative Leistung der Sprache in den Vordergrund, sind dialogzentriert, berücksichtigen stärker als traditionelle Grammatiken die gesprochene Sprache. - 3. Der durchaus philosophische Habitus von Weinrichs Argumentationsführung unterstreicht den kulturanthropologischen Erkenntnisanspruch dieser Grammatik, der sich augenfällig in der Aufstellung von dreißig paarigen semantischen Merkmalen äußert, die zueinander in einem Verhältnis binärer Opposition stehen wie <Bereitschaft> vs. <Aufschub>, <Anfang> vs. <Ende>, <Identität> vs. <Alterität>, <Rahmen> vs. <Inhalt>, <Hoch> vs. <Niedrig> ("Verzeichnis der semantischen Merkmale", S. 1081 - 1088).
Weinrich kennzeichnet seine Grammatik als nicht normativ, sondern deskriptiv (S. 19), d. h. als um die Beschreibung tatsächlich vorkommender Sprachäußerungen bemüht; aber selbstverständlich bietet er dennoch dem ratsuchenden Leser vielfältige Orientierungen und letztlich auch Vorgaben (man denke nur an die Tabellen von Konjugationsformen). Auch in dieser Hinsicht ist dem vorliegenden Werk "eine deutliche Option für Sprachkultur eingeschrieben" (S. 19). Gewöhnungsbedürftig ist Weinrichs Textgrammatik für alle, die noch mit den Denkweisen und Termini der traditionellen Grammatik erzogen wurden (das sind bis zum heutigen Tag die meisten), nicht nur aufgrund der bereits vorgetragenen Charakteristika und einiger Neudefinitionen (so heißt der Konjunktiv II hier "restriktiver Konjunktiv oder Restriktiv", S. 20). Ungewohnt ist auch die Gliederung, die sich von der klassischen Einteilung des Grammatik-Dudens[2] (dort auf der ersten Gliederungsebene: 1. Das Wort, 2. Der Satz) deutlich abhebt: 1. Grammatische Theorie, 2. Das Verb und sein Umfeld, 3. Das Verb und seine Einstellungen, 4. Das Nomen und sein Umfeld, 5. Das Adjektiv, 6. Das Adverb, 7. Syntax der Junktion, 8. Syntax des Dialogs, 9. Wortbildung. Glücklicherweise wird aber die Konsultation durch ein hilfreiches Register der grammatikalischen und linguistischen Termini und der erklärten Wörter (nicht aber der zitierten Autoren) erleichtert.
Weinrichs durch Anschaulichkeit, Beispielfülle und ausführliche textgrammatische Kommentare exemplarischer Texte (Beispiel Kochrezept, S. 281) bestechende Textgrammatik empfiehlt sich für alle, die bei der punktuellen Lösung eines sprachlichen Zweifelfalles auf der Suche nach einer Vorgabe, einem Kommentar oder (häufig am wichtigsten) einem Beispiel sind. Die Lektüre größerer Abschnitte, die über eine Einzelfallklärung hinausgeht, wird für alle professionell mit Sprache Arbeitenden von großem Wert sein. Fazit: Ein unverzichtbares Nachschlagewerk, das in den Informationsbestand einer jeden Bibliothek gehört, aber selbstverständlich die Nutzung des klassischen, stärker normierenden Grammatik-Dudens nicht ersetzt.
Werner Bies