Um das Urteil vorwegzunehmen: Die Arbeit hat in jeder Hinsicht vorbildhaften Charakter und möge für ähnliche Unternehmungen zum Muster dienen. Hier hat endlich einmal wieder jemand die im deutschen Sprachraum weitgehend vergessene Kunst der räsonnierenden Bibliographie (der Titelzusatz annotierte Bibliographie mutet streckenweise allzu bescheiden an) auf hohem Niveau geübt, das Bibliographie recht eigentlich erst zu einem Teil der Fachwissenschaft macht.
Alles ist durchdacht und planvoll ausgeführt: von der Gliederung (Bibliographien - Zeugnisse - Darstellungen; letztere unterteilt in neun Gruppen, u. a.: Einfluß auf Literatur, Übersetzungsgeschichte, Theaterrezeption, Rezeption in den Massenmedien, in der Musik) über ein einfaches Siglierungssystem bis hin zur Anlage der einzelnen Titelaufnahme. Letzteres verdient besondere Hervorhebung. Wer das Kopfschütteln des fachlich orientierten Benutzers ob mancher moderner Bibliographie kennt, die - EDV-gestützt in der Herstellung - womöglich Aufsätze und Rezensionen zu RAK-gerechten Aufnahmen bläht, wird das pragmatische Verfahren zu schätzen wissen, das Blinn gewählt hat und das zeigt, daß man präzise zitieren kann, ohne so etwas wie RAK für In-Aufnahmen zu versuchen.
Angesichts der beeindruckenden Leistung von Blinn mögen die folgenden
geringfügigen Ergänzungen allzu beckmesserisch anmuten. Sie seien
mitgeteilt in der Erwartung, daß sie einer dem Werk zu wünschenden
aktualisierten Neuauflage (oder periodischen Fortsetzung?) zugute
kommen können. Blinn leitet den Abschnitt mit dem Nachweis der
Zeugnisse von Schriftstellern, Philosophen, Theaterleuten usw. mit der
Bemerkung ein: "Die Dokumentation ist so angelegt, daß sie auch
kleinere Zeugnisse der Rezeption Shakespeares für den Zeitraum
verzeichnet, in dem der britische Dramatiker noch wenig bekannt ist
und gerade erst entdeckt wird. Ab etwa 1785 wird sein Genie nur noch
selten bestritten; von diesem Zeitpunkt an werden nur noch größere und
bedeutendere Dokumente aufgenommen." (Allein für das 17. und 18.
Jahrhundert werden rund 150 Zeugnisse nachgewiesen.) Folglich darf die
"Vergleichung" von Matthias Claudius (zuerst im Wandsbecker Bothen von
1771, wiederholt auch im Göttinger Musenalmanach auf 1773 nicht fehlen
("Voltaire und Shakspeare: der eine / Ist was der andre scheint. /
Meister Arouet sagt: `Ich weine'; / Und Shakespeare weint.")[3]
Bei dem Verfasser J. G. Kohl der in der Wiener Abendpost 1876
erschienenen Artikelfolge (D 3250) handelt es sich um den im 19.
Jahrhundert sehr bekannten, dann vergessenen und erst jetzt von der
Wissenschaftsgeschichte wieder entdeckten Geographen, Kartographen,
Ethnographen, Reiseschriftsteller und Amerikanisten Johann Georg Kohl
(1808 - 1878).[4] Kohl war in seinen Dresdener Jahren dem
Shakespeare-Übersetzer Baudissin begegnet; seine Schwester Ida hatte
in die Familie Baudissin eingeheiratet. Diesen Artikel aufgetrieben zu
haben, ist schon ein Kabinettstück bibliographischer Recherche.
Hans-Albrecht Koch
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