Jazzdiskographien gibt es seit ca. 50 Jahren. Die erste ernsthafte Diskographie stammt von Charles Delaunay (Hot discography, Paris, 1936). Ihm folgten - um nur die wichtigen zu nennen - Brian Rust (Jazz records 1897 - 1942, zuletzt in 5. ed. 1983) Jorgen Grunnet Jepsen (Jazz records 1942 - 1965, mit gleitendem Berichtsende, das teilweise bis 1969 reicht, erschienen 1963 - 1970) und Walter Bruyninckx (50 years of recorded jazz 1917 - 1967). Daneben gab es eine große Anzahl von Personaldiskographien sowie Versuche, die genannten umfassenden Diskographien fortzuschreiben. So führt Bruyninckx's längst vergriffe Loseblattsammlung bis 1979; danach wurden von ihm eher subjektive Themenbände nach Stilrichtungen veröffentlicht. Seitdem bestand eine große Lücke in der diskographischen Verzeichnung.
Tom Lord bezeichnet seine als "endgültiges" Werk konzipierte Arbeit
als The jazz discography und definiert Diskographie als "a list of
recording sessions" mit folgenden Informationen: leader name, album
title, group name, musicians including instrument played, recording
location and date, tune names including matrix number and album
numbers. Lord bedauert, daß die jazzdiskographische Bemühungen im
Zeitraum von 1942 - 1980 steckengeblieben seien (gemeint sind vor
allem die Unternehmungen von Jepsen) und stellt sein Werk als eine
Allgemeindiskographie des Jazz ohne zeitliche Begrenzung vor. So
umfaßt die Diskographie alle Erscheinungsformen des Jazz: Traditional
Jazz, Swing, Bebop, Modern, Avantgarde, Fusion, Third Stream usw. Auch
Bluesplatten werden verzeichnet sowie Platten/CDs, die man eigentlich
nicht in einer Jazzdiskographie erwarten würde. Nach Abschluß des
letzten Bandes rechnet Lord mit über 100.000 verzeichneten
Aufnahmesessions, über 500.000 Musikereinträgen ebensovielen
Einzeltiteln. Ein Register der Musiker und der Titel sollen zum
Abschluß erscheinen. Lord bedient sich einer Datenbank, die speziell
für die Erstellung der Jazz discography konzipiert und aufgebaut
wurde. So ist sichergestellt, daß die einzelnen Bände immer auf dem
neuesten Stand der Information sind und die Indizes komplett erstellt
werden können. Als Datenquelle nennt Lord vorhandene Diskographien,
Jazz-Zeitschriften sowie Informationen von Sammlern, Plattenfirmen und
aus Plattenkatalogen. Auch das Archiv der Zeitschrift Cadence stand
zur Verfügung. The jazz discography ist alphabetisch nach band leader
bzw. Namen der Band geordnet. Jede Session erhält eine eigene Nummer,
die in den Indizes verwendet werden soll. Die typographische
Gestaltung erscheint zunächst sehr gedrängt (relativ kleine Schrift,
keine Wiederholungen von Besetzungen; wenn diese nahezu identisch
sind, werden nur die Abweichungen angegeben;[2]); dank Fettdruck beim
Aufnahmeort und -datum, Großbuchstaben beim Gruppennamen und
Unterstreichungen bleibt jedoch die Übersicht einigermaßen gewahrt.
Jazz records 1942 - 1980 von Erik Raben hat sich den bereits im Titel
genannten Zeitraum als Rahmen gesetzt und baut auf Jepsens Jazz
records auf. Eine auf den Stand von 1972 ergänzte und erweiterte
Ausgabe wurde an ca. 25 Sammler verschickt mit der Bitte, Ergänzungen
und Korrekturen zu melden. Auch diese Diskographie ist alphabetisch
nach Hauptinterpreten bzw. Namen der Formationen aufgebaut und
innerhalb nach dem Aufnahmedatum. Zum Mengengerüst äußert sich der
Autor leider nicht und offensichtlich ist dieses selbst dem Verlag
nicht bekannt. Von der typographischen Gestaltung her ist Raben eher
unübersichtlich. Außer Großbuchstaben und Unterstreichung bei den
sortierenden Musiker- und Bandnamen erscheinen alle anderen
Informationen ohne jede weitere typographische Hervorhebung. Oft gehen
Einträge so ineinander über, daß eine Trennung und Unterscheidung
nicht mehr möglich ist. Jedem Band ist ein Index der Musiker
beigegeben, so daß auch diejenigen Musiker auffindbar sind, die keinen
Haupteintrag erhalten haben. Der Index verweist jedoch auf die Seite,
wo aber mehrere Platten desselben Musikers verzeichnet sein können,
was den Benutzer zum Durchlesen der ganzen Seite zwingt. Man erfährt
auch nirgends, ob ein Gesamtindex vorgesehen ist.
Beide Werke erheben also den Anspruch, Allgemeindiskographien zum Jazz
zu sein, einmal ohne zeitliche Begrenzung und einmal mit einer
solchen. Im folgenden werden die Ergebnisse einer mit den Aufnahmen
des Tenorsaxophonisten und Sängers George Adams[3] vorgenommenen
Stichprobe mitgeteilt, mit deren Hilfe die Vollständigkeit und die
Exaktheit der Angaben ebenso überprüft wurden, wie die Vollständigkeit
bzw. Lückenhaftigkeit der eigenen Platten-/CD-Sammlung. Es zeigt sich
nämlich, daß eine Überprüfung sowohl der Vollständigkeit als auch der
Exaktheit der Angaben ohne den Rückgriff auf die Platten/CDs selbst
nicht möglich ist.[4]
Raben hat bei George Adams die schlechteren Karten, da er wegen des
Endes der Berichtszeit bei 1980 die wichtigste Schaffensperiode von
George Aadams nicht berücksichtigen kann. Erstes verblüffende
Erkenntnis: Raben nennt keine Plattentitel, als ob der Titel einer
Schallplatte/CD für ihn überhaupt keine Bedeutung hätte. Er nennt beim
ersten Eintrag (S. 12) unter George Adams lediglich den Gruppennamen
(George Adams Quartet), die Musikernamen mit Instrumenten, Aufnahmeort
und Datum sowie die einzelnen Stücke und die Labelnummer. Aus der
Auflistung der Titel geht nicht hervor, welcher Titel auf welcher
Plattenseite zu finden ist. So ist die Reihenfolge der Stücke meiner
Schallplatte (Jazz A Confronto) eine völlig andere als die bei Raben.
Weder A- noch B-Seite sind kenntlich gemacht, noch die Länge der
Stücke aufgeführt. Beim dritten Eintrag auf S. 13 (Sound Suggestions)
stehen bei meiner Platte die Musiker und die Stücktitel in anderer
Reihenfolge als hier aufgeführt. Auch das Veröffentlichungsdatum der
Platten/CDs sucht man bei Raben vergeblich. Besonders drastisch: der
letzte Eintrag auf S. 14. Hier werden zwei Schallplatten unter einer
Plattensession so zusammengefaßt, daß erst nach langem Vergleichen und
Überlegen klar wird, daß es sich zwar um eine Session handelt, aber um
zwei Schallplatten, nämlich Earth Beams und Life Line. Da die
Plattentitel nicht genannt sind, kann ich die diskographischen
Einträge nur sehr mühsam mit meiner Sammlung vergleichen. Ich habe
deshalb die mir wesentlich erscheinenden Angaben von den Platten in
Raben übertragen. Danach waren die drei Seiten Adams nicht
wiederzuerkennen, da meine Zusätze und Korrekturen den Text bei Raben
an Länge übertreffen.
Lord nennt glücklicherweise die Plattentitel, so daß der Abgleich hier
leichter fällt. Zudem kann ich auf Anhieb feststellen, welche Platten
ich besitze und welche mir fehlen. Bei einigen Platten (hierbei kann
man nun bei Lord erfreulicherweise die Sessionnummer zitieren) weicht
die Reihenfolge der Musiker von der auf meinen Platten ab. Vermutlich
hängt dies mit der Quellenlage zusammen. Ein Fehler bei A344: Der
Stücktitel heißt nicht Sumphony for jive, sondern Symphony For Five,
bei A345 steht auf der Platte Nobody Knows The Trouble I've Seen und
nicht Nobody know ... Bei A349 hat Lord die LP und die CD zu einer
Eintragung verschmolzen. Das ist aus Platzgründen sinnvoll,
Abweichungen werden dadurch aber nicht deutlich. So ist die
Reihenfolge der Stücke auf meiner LP eine andere als die verzeichnete:
B1, B2, A1, A3, B3, A2. Ist die bei Lord verzeichnete jetzt die
Reihenfolge der CD (die ich leider nicht besitze) oder ein Fehler? Der
Aufnahmeort ist Monster und nicht Holland. Außerdem nennt die Platte
den 2. und 3. Februar als Datum und nicht den 3. und 4. Februar. Bei
A351 habe ich eine andere Musikerreihenfolge (1,2,5,3,4) und das Stück
heißt Flame Games und nicht Flame game. A356 hätte ich unter dem
Bandnamen Phalanx gesucht, während dies Lord aber offensichtlich als
Plattentitel ansieht. Kurios ist die Eintragung A357, die äußerst
spärliche Angaben enthält: nur einen Stücktitel, keine Besetzung, nur
ein Aufnahmejahr. Ist dies die Platte Nightingale (Blue Note
B1-91984), die natürlich mehr Titel enthält als nur Bridge over
troubled water? A359 ist 1990 erschienen, doch sind Erscheinungsdaten
auch bei Lord nicht vorhanden. Ebensowenig verzeichnet Lord die
Plattenseite, die Nummer des Stücks und die Stücklängen. Der Titel
heißt The Star Spangled Banner und nicht The star. Bei Paradise Space
Shuttle stimmen weder bei Lord noch bei Raben die Reihenfolge der
Stücke mit meiner Platte überein. Tröstlich ist es auch immer, im
Regal eine Platte oder CD zu finden, die nicht verzeichnet ist, so das
George Adams und James "Blood" Ulmer Quartet, Jazzbühne Berlin '85
(June 23, 1985), RR 4912 oder Frankfurt Workshop '78 : Tenor Saxes mit
George Adams, Archie Shepp und Heinz Sauer (Circle Records RK
24978/31). Letztere vermute ich unter Shepp, Archie, obwohl eindeutig
Adams der erstgenannte Musiker ist.
Beide Diskographien enthalten eine außerordentliche Menge an
Informationen und stellen Versuche dar, umfassende
Jazz-Allgemeindiskographien, ja sogar die definitive Jazzdiskographie
zu schaffen. Dies ist jedoch nur teilweise gelungen. Lord besticht
durch seinen Umfang, die große Vollständigkeit, gute Typographie und
ein gutes Preis/Leistungsverhältnis. Ihm ist dringend zu raten,
zusätzlich zu den angekündigen Indizes der Musiker auch Register der
Plattentitel und der Label zu erstellen. Angesichts der Datenmenge
wäre auch eine CD-ROM sehr erwünscht. Raben wurde zwar von der
Jazzkritik sehr positiv aufgenommen,[5] muß aber wegen der
eingeschränkten Berichtszeit, fehlender Plattentitel und schlechter
Typographie weit hinter Lord zurückstehen. Daß beide unterschiedliche
Abkürzungen für die Instrumente verwenden, ist noch das kleinste Übel,
haben sich doch Diskographen bisher noch nie auf die Anwendung
einheitlicher Abkürzungen verständigen können. Beide Diskographien
scheinen sich in großem Umfang auf sekundäre oder gar tertiäre Quellen
zu verlassen. So fiel bei den Stichproben auf, daß in einigen Fällen
beide einheilich falsche Informationen gaben. Da beide Werke als ihre
Quellen zusätzlich auch eine große Zahl freier Mitarbeiter vermelden,
ist es nicht überraschend, daß ein beträchtlicher Teil der
Informationen auf subjektiven Einstellungen beruht. Keine der beiden
Diskographien macht Angaben darüber, welche Labels verzeichnet werden.
Die wirklich definitive, nur auf Autopsie beruhende Jazzdiskographie
wird also noch lange auf sich warten lassen.
Zum Schluß noch eine prinzipielle Bemerkung. So wie eine Bibliographie
Bücher verzeichnet, sollte eine Diskographie Tonträger verzeichnen und
zwar so, daß alle Informationen den Tonträgern selbst entnommen werden
(von Cover, Label, Matrix, Liner notes etc.). Alle anderen, auch die
ermittelten Informationen, Korrekturen von falschen Angaben auf den
Tonträgern, sollten in Annotationen vermerkt werden. Die Zuordnung
eines Tonträgers zu einer diskographischen Aufnahme sollte immer
eindeutig möglich sein. Verzeichnisse von Aufnahmesessions sollten zur
Unterscheidung von den Diskographien vielleicht Sessiographien genannt
werden. Daß letztere ihr Berechtigung haben, ist unbestritten, doch
könnte der Benutzer einer Diskographie dann wirklich davon ausgehen,
daß er diese mit seiner Plattensammlung abgleichen kann, wie dies z.B.
beim Bielefelder Katalog. Jazz[6] möglich ist.
Bernhard Hefele
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