An Wörterbücher ergehen zahlreiche komplexe und vielfältig miteinander
verbundene (wörterbuch)didaktische Forderungen, zu denen sich im Fall
des Lern(er)wörterbuchs zusätzliche lernpsychologische Ansprüche[2]
gesellen. Die entsprechenden Kriterien, die hier aus Platzgründen
nicht ausformuliert und systematisiert, sondern nur durch grobe
Etikette umrissen werden können, lauten: Aktualität (1),
Gebräuchlichkeit (2), Definitionsqualität (3), Kontextbezogenheit (4),
Grammatikalische Information (5), Aussprachehilfe (6), Bebilderung
(7), Informationsdesign (8). An Hand dieser Kriterien sei das
vorliegende Wörterbuch getestet.
(1) Es empfiehlt sich durch seinen aktuellen Wortschatz (Besserwessi,
Biofarbe, HIV-positiv, Politikverdrossenheit, Ozonkiller). (2) Dem
Gebräuchlichkeitskonzept wird durch besondere Beachtung der
gesprochenen, idiomatischen Sprache Rechnung getragen (geil, Mathe,
Muffensausen). Stilebene und Sprechereinstellung werden markiert
(gespr ["sehr salopp, aber noch nicht vulgär"], iron ["ironisch"]). An
den Anforderungen unserer Mediengesellschaft orientiert, erleichtert
das Wörterbuch - insbesondere durch die starke Berücksichtigung des
Wortschatzes aus den Bereichen Politik und Gesellschaft
- Fernsehkonsum und Zeitungslektüre (Butterberg, Fünfprozenthürde,
PDS).
Das genuin bildungsbürgerliche Vokabular, von älteren Wörterbüchern
traditionell favorisiert, bleibt gleichwohl nicht ausgeschlossen
(Hinterglasmalerei, Sinologie). Insgesamt überrascht mithin die
Inklusivität des Wörterbuchs: Es enthält ca. 66.000 Stichwörter und
Wendungen, u.a. auch erstaunlich viele der für die deutsche Sprache so
wichtigen Komposita (fortschrittsgläubig, Mehrzweckhalle). (3) Die
Definitionen - eine der größten Herausforderungen an jeden
Lexikographen - zeugen von großem Sachverstand und sicherem Sinn für
stilistische Präzision (Scheibenwischer). Gelegentlich, insbesondere
bei Abstrakta (Teufelskreis), setzen sie aber beträchtliche Kenntnisse
voraus, enthalten niederfrequentes Vokabular, sind zu elaboriert, zu
wenig 'assoziativ' oder rekurrieren zu selten auf
Standardsituationen- und
-kontexte, um - angesichts des intendierten
Adressatenkreises - leicht
und verständlich zu sein. Facettenreich, weitgehend mit
illustrierender Funktion, aber mit einem schwierigen Wort wie
"anregend" versehen: die Definition von Kaffee; pragmatisch und
alltagsbezogen: die Definition von Paß (als Dokument). (4) Kontexte
des Wortgebrauchs, Wortumgebungen, schließlich auch Wortfelder werden
durch Kollokationen bereitgestellt ("die Freuden <des Lebens, des
Sommers, der Liebe>"), durch Beispiele ("Der redet, als wäre er
komplett verrückt"), durch Synonyme und Antonyme. Im Zweifelsfall wird
die "didaktische Funktion des Beispiels" (S. VIII) für wichtiger
erachtet als dessen Authentizität. (5) Der richtige Sprachgebrauch
wird erleichtert durch eingefügte grammatische Tabellen (Beispiel: die
Deklination von dieser), durch zahlreiche im einzelnen Lemma
angebrachte Strukturmuster (patterns), durch (falls erforderlich)
Informationen zur Deklination und Konjugation und - explizite wie
implizite - grammatikalische Hinweise: Erfüllung (nur Sg),
gutverdienend (nur attr, nicht adv), kooperieren (Vi: [intransitives
Verb], transportabel (NB: transportabel - ein transportabler
Bohrturm). (6) Betonungshilfen erfolgen für alle Lemmata,
Aussprachehilfen nur, wenn die Aussprache nicht "ohne weiteres aus der
Schreibung ersichtlich ist" (S. XII). (7) Instruktive Illustrationen
erarbeiten wichtige Unterschiede (Axt vs. Beil), vermitteln die
Essentials einer Situation bzw. Ensembles (Frühstückstisch), stellen
dem Wörterbuchnutzer erste wichtige Differenzierungsmöglichkeiten
bereit (Blume: Rose, Tulpe, Schneeglöckchen, Narzisse, Gänseblümchen,
Löwenzahn, Krokus). (8) Gewöhnungsbedürftig ist, wie in nahezu allen
Wörterbüchern, das Informationsdesign: Gliederung, typographische
Auszeichnungen, Abkürzungen, Sonderzeichen (wie vieles andere
erläutert in den nicht leicht zu rezipierenden "Hinweise[n] für den
Benutzer", S. IX - XXVI). Vielleicht gilt es ohnehin, in bezug auf
Sprachwörterbuchartikel - ein Genre, das in besonderem Maße dem Gebot
der Wissensverdichtung gehorcht - allzu utopische Hoffnungen an
unmittelbar erfahrbare Transparenz, Übersichtlichkeit, Stringenz und
Kohärenz aufzugeben. Freilich wird dies die lexikographische Forschung
ungern zur Kenntnis nehmen.
Selbstverständlich ist ein Lernwörterbuch in erster Linie für den
täglichen Gebrauch und für die Unterbringung in Schreibtischnähe
gedacht. Angesichts der enormen Bedeutung, die aufgrund gewaltiger
Migrationen der Erlernung der deutschen Sprache in unserer heutigen
Gesellschaft zukommt, tun aber auch Bibliotheken, nicht nur
öffentliche, gut daran, das qualitätsvolle - angesichts der
anvisierten Nutzer aber doch recht anspruchsvolle - Wörterbuch
anzuschaffen. Nicht nur hierbei muß in Anbetracht einer "increasingly
polyglot, ethnically diverse, multicultural clientele"[3] in stärkerem
Maße über eine multikulturelle Erwerbungspolitik nachgedacht werden.
Werner Bies
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