Die Konzeption des Lexikons ist, wie ein anderer Rezensent[2] schon
angemerkt hat, "begrüßenswert breit". Es sind nicht nur Philologen,
dazu Historiker berücksichtigt, sondern auch Philosophen, Übersetzer,
Journalisten, Schriftsteller, dies alles bis zurück ins 16.
Jahrhundert. Die obere Zeitgrenze - 1945 - ist so aufgefaßt, daß noch
mit aufgenommen ist, wer schon vor diesem Jahr publiziert hat.
Da Röhling bereits die starken Vorzüge und die wenigen Mängel erwähnt
hat, braucht man hier nur Einiges zu ergänzen. Zunächst Fehlendes.
Fast die ganze Vasmerschule ist vertreten, dazu Koschmieder mit seinen
älteren Schülern. Tschizewskij hätte in der alten DDR kaum Aufnahme
finden können. Aber auch jetzt ist seine gesamte Nachkriegstätigkeit
in Westdeutschland mit nur zwei Zeilen abgetan. Hängt es damit
zusammen, daß sein bedeutendster Schüler, Dietrich Gerhardt, fehlt?
Unter den Journalisten fehlt Arthur Just, unter den Übersetzern Alfred
Kurella und vor allem Erich Müller-Kamp, unter den Historikern Fritz
Epstein, unter den Schriftstellern Leopold v. Sacher-Masoch, Leopold
Kompert, Emil Franzos, ja darüber hinaus fast die ganze deutsche
Literatur aus dem alten Österreich, besonders den böhmischen Ländern,
soweit ihre Autoren sich mit den slawischen Hauptvölkern, unter denen
sie lebten, sichtlich befaßt haben, Marie v. Ebner-Eschenbach,
Adalbert Stifter, Ferdinand v. Saar, um nur drei ganz große zu nennen.
Wenn andererseits Rilke wegen seiner russischen Interessen aufgenommen
ist, so ist dieser Hinweis nicht überflüssig. Denn man erkennt daran,
daß die Konzeption einseitig russozentrisch ist, Slawistik eben im
alten DDR-Verständnis. Dabei ist zwar alles Sorbische voll
eingeschlossen, Vieles zu Polen, aber wenig zum Südslawischen, und wie
bei dieser veralteten Konzeption üblich, bleiben die nächsten Nachbarn
der Deutschen, die Tschechen im Dunkeln.
Andererseits ist manchmal des Guten zu viel getan. Georg Brandes war
Däne und gehört wirklich nicht in die Slawistik in Deutschland;
desgleichen nicht Kopiewicz: er war Pole und hat nicht deutsch
geschrieben; wäre es da nicht richtiger gewesen, Dobrovsky
aufzunehmen? Immerhin findet man Purkyne, den Baron Sternberg aber
wieder nicht, und neben Jakob Grimm und Thomas Mann hätten Hamann und
Goethe, gewiß auch Schiller Aufnahme verdient. Dafür findet man Rosa
Luxemburg (auch sie doch wohl Polin), Clara Zetkin und Franz Mehring
- aber können sie denn wirklich zum Stichwort Slawistik etwas
beitragen?
Diese Artikel stammen von Michael Wegner. Es wundert, wenn man schon
sie und dazu Erich Weinert aufgenommen hat, warum denn dann nicht z.B.
auch Arnold Zweig?
Man möge es nun nicht als Beckmesserei ansehen, wenn man sich auch
noch darüber wundert, wie ungeniert für die Zeit vor 1945 von Gdansk
und Wroclaw geredet wird. Daß nach Schrägstrich die deutsche
Namensform auftaucht, macht die Sache eher schlimmer, so als ob die
Städte auch früher schon wie heute polnisch gewesen seien und man den
Deutschsprachigen ein Zugeständnis mit dieser Schrägstrichform machen
müsse. Unerträglich aber ist die Gängelei des Lesers, wenn man ihn
darauf hinweisen zu müssen glaubt, daß jemand "deutschnationale"
Ansichten gehabt habe. Wollen wir das wirklich fortsetzen und jedesmal
hinzufügen, jemand sei nicht frei von sozialistischen Anschauungen?
Freilich ist Derartiges wohl abhängig von den jeweiligen Autoren.
Alles Vorgebrachte kann leicht redaktionell geändert werden, und für
neue Auflagen, die wohl schon in Aussicht genommen sind, wurde das
hier erwähnt. Ganz im Vordergrund aber muß der überwiegend positive
Gesamteindruck stehen.
Nur sei die Anmerkung schließlich erlaubt: Slawistik ist eben nicht
eine wissenschaftliche Disziplin der Philologie, vielleicht noch der
Geschichte. Es ist vielmehr eine Dokumentation jeglicher Beschäftigung
von Deutschen mit ihren östlichen Nachbarn, und das macht das Buch
unentbehrlich.
Hans Rothe
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