Die Auswahlprinzipien, deren Kompromißcharakter offensichtlich ist, sind gleich geblieben: Der Schwerpunkt liegt bei "denjenigen Werken, die heute noch außerhalb der Forschung gelesen werden und in der literarischen Welt lebendig sind. Daneben wurden jedoch unter literaturhistorischem Aspekt die wichtigsten klassischen Beispiele der heute weniger gelesenen Literaturepochen aufgenommen, deren literarischer Wert unabhängig vom Zeitgeschmack die Jahrhunderte überdauert hat" (S. XV); darüber hinaus wird "den im deutschen Sprachraum bekannteren Werken (der Vorrang eingeräumt)" (S. XVI).
Anlage im Alphabet nicht der Original-, sondern der Übersetzungstitel,
was zu vielen Problemen führt, wie das Vorwort selbst einräumen muß,
Probleme, die sich nur durch ein Register der Originaltitel hätten
lösen lassen, das dem Benutzer jedoch vorenthalten wird; er wird
stattdessen mehrfach auf die Hilfsfunktion des Verfasserregisters[2] zum
Auffinden von Werken hingewiesen, deren deutsche Titel ihm nicht
bekannt sind, ein Hinweis, der freilich nur dann nützt, wenn man auch
den Verfasser kennt. Ansonsten finden sich im Lexikon selbst nur
Verweisungen von gewissen abweichenden deutschen Titelfassungen.[3]
Aufbau der Werkartikel: 1. Formales (gerafft): Deutscher Titel, ggf.
fremdsprachiger Originaltitel, Gattung, Verfasser, Entstehungszeit,
Erstausgaben in Buch- und ggf. auch in unselbständiger Form,
Uraufführung (bei Dramen), "empfehlenswerte deutsche Übersetzungen",
Fortwirkung des Werkes in anderer Form (z.B. als Vertonung); 2. der
Hauptteil versucht, das Programm - "Weltliteratur in Charakteristiken
und Kurzinterpretationen" - umzusetzen, nicht "als voraussetzungslose
Inhaltsangabe ..., sondern in einer Kurzinterpretation des Werkes
...", so daß nur die "für das Verständnis erforderlichen Grundzüge der
Handlung (plot)" mitgeteilt werden; dazu kommt das Bemühen "um eine
objektive kritische Wertung der literarischen oder
literaturhistorischen Bedeutung des Werkes" (S. XVIII); 3.
Literaturangaben unter Beschränkung auf Monographien.
Daß ein derartiges Werklexikon "nicht die Lektüre der Dichtungen
selbst ersetzen, sondern an sie heranführen und zu ihrem tieferen
Verständnis anleiten (will)", daß es "als Gedächtnishilfe dazu dienen
(will), früher Gelesenes wieder in Erinnerung zu rufen und
nachschlagebereit festzuhalten, aber auch eine erste Vororientierung
vor der Lektüre zu bieten" (S. XV), findet sich als Topos in den
Vorworten aller derartigen Lexika, so als ob man sich wegen des
immerhin möglichen Mißbrauchs in der Hand von Banausen entschuldigen
müßte, die ein Werk nur in dieser Digest-Form rezipieren ohne es je
gelesen zu haben oder auch ohne die Absicht zu haben, es je zu lesen.
Leider dürfte diese Ersatzfunktion aber vermutlich doch die
Hauptfunktion derartiger Werklexika sein, und um so wichtiger ist,
wieviel Ersatz der Nutzer erhält. Damit sind wir bei dem
unausweichlichen Vergleich mit Kindlers neuem Literaturlexikon,[4] ein
zunächst unfair anmutender Vergleich, kann doch ein zwanzigbändiges
Lexikon mehr Werke behandeln, als ein - selbst dickleibiger -
Einbänder. Testfall für den Rezensenten war - sozusagen aus dem Leben
gegriffen - Leskovs Lady Macbeth von Mzensk, über deren plot sich der
Rezensent - auf dem Wege zu Sostakovics gleichnamiger Oper und wie
immer zu spät dran - rasch informieren wollte; da sein Opernführer
(zugegebenermaßen kein guter und deshalb ein zu ersetzender[5]) nicht
weiterhalf, lag es nahe, zu Bd. 2 des Wilpert zu greifen, leider
vergeblich, was das konkrete Anliegen betraf, erfährt man hier doch
nur "daß die Liebesleidenschaft der schönen Kaufmannsfrau Katerina
Izmaijlova für den Schurken Sergej ... sie von einem Verbrechen zum
anderen (treibt)" und daß diese in "vier Morden und einem Selbstmord"
bestehen: etwas wenig für den gewünschten Zweck. Nach der Oper dann
ein Griff zum Kindler, der genau das bietet, was man auch erwartet,
nämlich eine simple Inhaltsangabe; was die sonstigen Informationen
betrifft, also z.B. die literaturgeschichtliche Einordnung, so bietet
Kindler in diesem Fall gleichfalls mehr und Besseres, so z.B. eine
Erklärung für den Bezug Leskovs auf Shakespeare, der gar nicht diesen
meint, sondern Turgenev, während es bei Wilpert - nichts erklärend
- nur heißt "in der Gestalt der Heldin entsteht ein großes, wenn auch
erschreckendes Charakterbild, der Shakespearschen Parallele nicht
unwürdig" (S. 762). Und auch die anderen, registrierenden Angaben sind
bei Kindler reichhaltiger, bis hin zu dem richtigen Hinweis auf die
Erstaufführung der Oper 1934 bzw. deren Neufassung 1963, während
Wilpert uns allein letzteres Jahr als das der Uraufführung präsentiert
oder dem Hinweis auf zwei Verfilmungen des Stoffes. Daß Kindler 16
Werke Leskovs gegenüber nur 5 bei Wilpert behandelt, sei immerhin
erwähnt.
Während Bd. 1 des Wilpert zu den überaus nützlichen und immer in
Griffweite stehenden Nachschlagewerken gehört und z.B. auch allen
Referenten des Faches Literatur bei der Erwerbung und Erschließung zur
Hand sein sollte, kann man dem Bd. 2 keine entsprechende
Unentbehrlichkeit attestieren, verdient hier doch der Kindler
eindeutig den Vorzug. Für den Privatmann mag natürlich der Preis den
Ausschlag zugunsten des Wilpert geben, doch wird sicher auch der
Kindler nach dem Vorbild seiner ersten Auflage bald zu einem
wesentlich günstigeren Preis zu haben sein; die Sekundärvermarktung
hat bereits begonnen.
sh
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