Das Unternehmen Handschriftencensus Rheinland - ebenso wie das
Parallelprojekt des westfälischen Census - ist nicht Teil des von der
Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten
Handschriften-Katalogisierungsprogramms, sondern ein eigenständiges
Projekt, dessen rheinischer Teil unter der Verantwortung des Direktors
der Universitätsbibliothek Düsseldorf, Günter Gattermann, und der
Projektleitung von Heinz Finger, Oberbibliotheksrat derselben
Bibliothek, stand. Finanziert wurde der Census in etwa je zu einem
Drittel vom Land Nordrhein-Westfalen, vom Erzbistum Köln und von der
Gerda Henkel Stiftung in Düsseldorf. Bearbeitet wurden vom
Projektleiter und von sechs Nachwuchshistorikern, von denen allerdings
nie mehr als vier gleichzeitig angestellt waren, seit dem 1. Oktober
1989 in einem Zeitraum von nicht einmal vier Jahren genau 2561
Handschriften aus der Zeit vom 7. Jahrhundert bis ca. 1550, die sich
heute in den Regierungsbezirken Köln und Düsseldorf in staatlichem,
kirchlichem, kommunalem und privatem Besitz befinden. Fragmente und
Archivalien wurden nicht aufgenommen. Das auf 1625 Seiten vorliegende
Resultat der Bemühungen verzeichnet den mittelalterlichen
Handschriftenbesitz von 78 Eigentümern oder Institutionen in vierzig
Orten und Ortsteilen. Darunter befinden sich 34 Institutionen, meist
Pfarreien, mit insgesamt 92, meist liturgischen Handschriften, deren
Existenz auch im Handbuch von Brandis/Nöther[1] nicht signalisiert ist.
Der Name des Unternehmens, seine Trägerschaft und die große Zahl der
in sehr kurzer Zeit bearbeiteten Handschriften zeigen, daß dieses Werk
nicht mit den von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten
Handschriften-Katalogen verglichen werden will und auch nicht an ihnen
gemessen werden kann. Kein wissenschaftlicher Bestandskatalog, sondern
ein Inventar der in den angegebenen räumlichen Grenzen vorhandenen
mittelalterlichen Handschriften aus der Zeit vor 1550 war das Ziel der
Bearbeiter. Die Beschreibungsmethode folgt daher auch nicht den
bekannten, seit 1992 in fünfter Auflage vorliegenden Richtlinien
Handschriftenkatalogisierung des Unterausschusses für
Handschriftenkatalogisierung der DFG,[2] sondern einem eigenen
Analyse-Schema von 21 Kategorien, das eine nicht näher definierte
"mittlere Erschließungstiefe" (S. 3) garantieren soll (S. 10 und 13):
1. Signatur; 2. Verfasser; 3. (Sach-) Titel; 4. Literarisches Genus;
5. Textprovenienz (bei Statuten; Stadtrechten u.ä.); 6.
Beschreibmaterial; 7. Umfang (Blattzahl) und Format (H x B); 8.
Künstlerische Ausstattung; 9. Provenienz der Handschrift; 10.
Datierung; 11. Inhalt; 12. Incipit (die ersten Worte der Handschrift,
die nicht spätere Eintragungen von Besitzern, Benutzern oder
Verwaltern des Codex sind); 13. Explicit (die letzten Worte der
eigentlichen Handschrift); 14. Schreiber; 15. evtl. spätere nicht zur
Handschrift gehörende Eintragungen; 16. Beziehungen zu Handschriften
des Projekts; 17. Beziehungen zu sonstigen Handschriften; 18.
Vorbesitzer (nicht Provenienz); 19. Faksimile-Ausgaben; 20.
Textausgaben mit Benutzung dieser Handschrift; 21. Sekundärliteratur
zur Handschrift. Von diesen Kategorien sind eigentlich nur Incipit und
Explicit erklärungsbedürftig; denn es handelt sich bei diesen Angaben
in den Beschreibungen nicht etwa um die Angabe der Initia und der
Textschlüsse der im einzelnen verzeichneten Werke, sondern nur um die
ersten und letzten lesbaren Worte der beschriebenen Handschrift. Diese
neudeutsch fingerprint genannte Methode, die, auf Handschriften
angewandt, im übrigen nichts anderes als das im mittelalterlichen
Buchwesen oft geübte Verfahren ist, Codices z.B. durch die Angabe des
Textanfangs des zweiten und des Textschlusses des vorletzten Blattes
zum Schutz vor Diebstahl und Entfremdung eindeutig zu identifizieren,[3]
mag in der Druckforschung zur eindeutigen Unterscheidung scheinbar
identischer Ausgaben sinnvoll sein. In der Handschriftenbeschreibung,
die es per definitionem mit Unikaten zu tun hat, hat sie nur
begrenzten Sinn, zumal man ja wohl davon ausgehen kann, daß die Masse
der im Census beschriebenen Handschriften aus staatlichem, kirchlichem
und kommunalem Besitz in der Regel ihren Besitzer nicht wechseln wird.
Da die fingerprints zudem durch kein Register erschlossen werden, sind
sie, da nur schwer auffindbar, auch von nur geringem praktischen
Nutzen. Um so bedauerlicher ist es, daß man die Mühe, die man in
dieses modische Verfahren investiert hat, nicht darauf verwandt hat,
die Initien der durch Verfasser oder Titel meist nur unzureichend
charakterisierten Werke in das Kategorien-Schema aufzunehmen, womit
dann auch die einzelnen Handschriften auf eindeutige Art
wiedererkennbar gemacht worden wären. Es ist der größte und
entscheidende Mangel des vorliegenden Unternehmens, auf dieses
zentrale Element jeder - ob kursorischer oder intensiver
- Handschriftenbeschreibung ohne jede nähere Erläuterung verzichtet zu
haben.
Das praktische Vorgehen bei der Beschreibung der einzelnen
Handschriften für den rheinischen Census bestand aus zwei deutlich
verschiedenen Arbeitsgängen: am Anfang stand, sofern vorhanden, die
Zusammenstellung der auf die jeweiligen Bände sich beziehenden
Literatur, an die sich dann im Rahmen intensiver Reisetätigkeit eine
Vertiefung der Kenntnisse oder erstmalige Beschreibung des Bandes
durch Autopsie vor Ort anschloß. Sonderfälle im Rahmen des Census (S.
8 - 10) bilden die bereits nach den DFG-Richtlinien beschriebenen
Handschriftenbestände im Historischen Archiv der Stadt Köln und in
Aachen. Um der Vollständigkeit des Census willen wurden Joachim
Vennebuschs mustergültige Beschreibungen der Kölner Handschriften
sowie die Mentzel-Reuters für Aachen in einer dem eigenen
Kategorienschema entsprechenden, allerdings noch weiter verkürzten
Form, im Falle von Handschriften mit einer Vielzahl kleinerer Texte
oft sogar nur in Auszügen (z.B. Nr. 73; 75; 1980 ff. passim) im Census
wiederholt. Verfasser-, Titel-, Provenienz-, Vorbesitzer- und
Schreiberregister erschließen den Band. Auf die Erstellung eines
eigentlichen Sachregisters, das beispielsweise Auskunft über die
Datierung der Handschriften oder die Art des Buchschmucks geben würde,
wurde verzichtet. Die Namensansetzungen der Verfasser folgen
unverständlicherweise nicht den inzwischen trotz aller
Unzulänglichkeiten zur Teilnorm gewordenen RAK-PMA.[4]
Als das Projekt eines Handschriftencensus Rheinland im Jahre 1989
erstmalig der wissenschaftlichen und bibliothekarischen Öffentlichkeit
vorgestellt wurde, hat es eine scharfe Polemik ausgelöst, die in dem
Vorwurf gipfelte, daß das Unternehmen "auf Grund unausgereifter
Konzeption und mangelnder Fachkompetenz der Mitarbeiter eine
angesichts des heutigen Forschungsstandes höchst bedauerliche
Fehlerquelle zu werden" verspräche. Das Projekt stelle "daher überdies
eine nicht zu verantwortende Fehlausgabe von Steuergeldern dar."[5] Nach
noch nicht einmal vier Jahren liegt das Resultat vor, das die
Berechtigung der Vorwürfe des Jahres 1989 zu überprüfen erlaubt.
Bei einem Werk dieses Umfangs gibt es natürlich immer die
unvermeidlichen kleineren Unzulänglichkeiten, Inkonsequenzen und
Irrtümer. So hat man, um willkürlich einige Einzelheiten
herauszugreifen, zu den Bonner und Kölner Aristoteles-Handschriften
(Nr. 106, 1635, 1652 - 1653) das Handschriftenrepertorium des
Aristoteles Latinus von G. Lacombe nicht herangezogen - ein Werk, mit
dem leicht auch Werke wie De intelligentia und De lineis
indivisibilibus als Pseudepigraphen hätten erkannt werden können (Nr.
633). Zur Euklid-Handschrift (Nr. 108) wäre ein Blick in die
Untersuchung von Menso Folkerts zur Euklid-Überlieferung im
mittelalterlichen Europa nützlich gewesen,[6] aus der man hätte lernen
können, daß es sich bei dem Text der Handschrift um einen Kommentar zu
den Elementa handelt, der nur in fünf Codices überliefert ist. Die
nicht immer glücklichen lateinischen Namensansetzungen bescheren uns
einen Bernardus Gordianus für Bernardus de Gordonio, die bereits von
Savigny (Römische Rechtsgeschichte, Bd. 5, S. 573) widerlegte Mär vom
Guilelmus Durandus, der laut Grabstein in S. Maria sopra Minerva in
Rom unzweideutig Guilelmus Duranti oder auch Durantis hieß, lebt wie
in vielen anderen Katalogen auch in diesem fort. Einem lateinisch
schreibenden und daher, so die Bearbeiter, lateinisch anzusetzenden
Johannes Boccaccius steht ein ebenfalls lateinisch schreibender Geert
Groote gegenüber. Daß es sich bei dem in Nr. 2413 genannten Henricus
Toke und in dem in Nr. 1701 erwähnten Hinricus Thoeken mit Sicherheit
immer um den Erfurter Theologen Heinrich Toke handelt, wird nicht
erkannt. Eine philologische Neuerung stellen auch die systematisch
durchgehaltenen Titelansetzungen wie Commentarius super libros
Ethicarum(!) Aristotelis (S. 1451 u.ö.) dar. Den Bearbeitern ist
offensichtlich nicht bekannt, daß die Titel der aristotelischen
Schriften von den mittelalterlichen Autoren in der durch die
Übertragungen aus dem Griechischen bedingten Form als Neutra im Plural
behandelt wurden. Die für die europäischen Nationalsprachen typische
Umwandlung der Neutra im Plural (Ethica, Ethicorum) in Feminina im
Singular (Ethica, Ethicae) setzt im allgemeinen erst im 15./16.
Jahrhundert ein.
Quisquilien dieser und ähnlicher Art und erstaunliche generelle
Aussagen über mittelalterliche Handschriften, sie seien "von ganz
wenigen Ausnahmen abgesehen stets im kirchlichen Bereich entstanden"
(S. 6), die auf geringe Professionalität schließen lassen,
beeinträchtigen den Gebrauchswert dieses Inventars für Bibliothekare
und Gelehrte jedoch nur am Rande. Sie werden bei weitem durch den
Gewinn, den es für die Forschung darstellt, ausgeglichen. Allein der
Überblick über die Bestände in Bonn, Düsseldorf und Köln hätte die
Arbeit gelohnt. Aber nun ist es auch möglich, kleinere und kleinste
Bestände leicht zu überschauen und bisher gar nicht oder nur wenigen
Eingeweihten bekannte Handschriften zu entdecken, beispielsweise die
Handschriften dominikanischer Provenienz in Bornheim-Walberberg,
bisher unbekannte Codices aus Werden (Nr. 334) und aus St. Victor in
Paris (Nr. 333), neue Handschriften mit dem Gnotosolitos des Arnoldus
de Geilhoven, die die Liste der zwölf bis dreizehn bisher bekannten
Zeugnisse um zwei erweitern (Nr. 1632 und 2283). Mit dem Census liegt
für das Rheinland ein Werk für einen großen Bestand mittelalterlicher
Handschriften vor, das der Art nach den gedruckten
Inventar-Verzeichnissen von Paris (Delisle), Wien (Tabulae) oder
München (Schmeller, Halm u.a.) vergleichbar ist. Sein Informationswert
ist in der Regel sogar höher als der der anderen Inventare, setzt aber
ebenso wie dort den kundigen Bibliothekar und Forscher mit seinen
kontrollierten Forschungsstrategien voraus, um fündig zu werden. Die
Polemik des Jahres 1989 gegen das Projekt des Census geht also,
betrachtet man das Gesamtergebnis, ins Leere.
Eine grundsätzliche Frage an dieses Projekt, die weder vom Herausgeber
noch vom Projektleiter ausreichend beantwortet wurde, stellt sich
dennoch. Der Gegensatz zwischen intensiver Erschließung und
Kurzkatalog, zwischen DFG-Katalogisierung und Census, oder,
wissenschaftsgeschichtlich formuliert, zwischen Valentin Rose und
Hermann Degering ist nur bei systematischem Zugriff ein
grundsätzlicher, in der historischen Entwicklung jedoch nur ein
scheinbarer, da die Inventarisierung der Katalogisierung in der Regel
vorangeht. Wenn das eine also das andere nicht ausschließt und nicht
ausschließen darf, wenn die Inventarisierung nur Vorgriff auf die
notwendige Katalogisierung ist und diese nicht mit dem Hinweis auf
jene angesichts knapper werdender öffentlicher Mittel behindert oder
vereitelt werden darf, dann wird sich in einigen Jahren erweisen, ob
die Hoffnung des Herausgebers, der Census solle die intensive
wissenschaftliche Katalogisierung nicht überflüssig machen, sondern
sie erleichtern (S. XIV), der Wirklichkeit angemessen ist. Daher
bleibt die Frage, weshalb dieser Zusammenhang nicht direkt in die
Projektplanung selbst einbezogen wurde. Es wäre doch denkbar gewesen,
den Census nicht traditionell als Buch mit einem
Textverarbeitungssystem zu erstellen, wie es offensichtlich in
Düsseldorf geschehen ist, sondern von Anfang an als Datenbank zu
konzipieren, die beliebigen Raum für zukünftige Erweiterungen und
Korrekturen gelassen hätte, also auch für jede Intensiverschließung.
Ein so angelegter Census hätte der Kern für den dringend nötigen
datenbankgestützten Census aller in Deutschland vorhandenen
mittelalterlichen Handschriften werden können, der von seiner Logik
her in einem ersten Arbeitsgang das vorhandene Wissen zusammenträgt
und systemimmanent im zweiten Schritt im Laufe der Zeit sukzessive die
von allen als notwendig angesehene wissenschaftliche Katalogisierung
nachholt, ohne sie durch die scheinbare Abgeschlossenheit des
gedruckten Buches negativ zu präjudizieren.
Bernd Michael
Zurück an den Bildanfang