Mitte der 80er Jahre begann die Sächsische Landesbibliothek Dresden
mit dem systematischen Sammeln dieser Zeugnisse einer "zweiten
Kultur", das Buch- und Schriftmuseum in Leipzig folgte, ebenso einige
westdeutsche Institutionen. Hier waren es manchmal Schriftsteller wie
Adolf Endler oder Volker Braun, welche für die Unternehmungen warben
und Kontakte herstellten. Über umständliche Korrespondenzen und
ebensolche Zahlungswege gelangten die Zeitschriften und Bücher in den
Westen. Das bibliographisch nicht immer pflegeleichte Sammelgebiet ist
recht eigentlich schmal: seit dem Ausgang der 70er Jahre sind etwa 300
Künstlerbücher und mehr als 30 Zeitschriften erschienen, begehrte und
kostspielige Sammelobjekte besonders nach der Wende. Nur wenige
Zeitschriften wie Entwerter/Oder und Herzattacke erscheinen weiterhin
in gewohnt ungewöhnlicher Form. - Grundlegende und erste Verzeichnisse
waren der 1990 von Egmont Hesse und Christoph Tannert herausgegebene
Katalog Zellinnendruck zur gleichnamigen Ausstellung in der Leipziger
Galerie Eigen+Art[1] sowie der im folgenden angezeigte, 1991 erschienene
Katalog von Henkel und Russ.
Die Sammeltätigkeit der Forschungsstelle für Unabhängige Literatur und
Gesellschaftliche Bewegungen Osteuropas an der Universität Bremen war
seit langem bekannt; mit dem vorliegenden Katalog erlaubt diese jedoch
zum ersten Mal einen Blick in ihre Bestände. Wurde im Deutschen
Literaturarchiv in Marbach/N. in der Absicht einer literarischen
Dokumentation gesammelt, so hat man in Bremen zwischen 1981 und 1993
auch das Umfeld berücksichtigt. Der Titel des Bestandskatalogs,
Eigenart und Eigensinn, nimmt den programmatisch zu verstehenden Namen
der Leipziger Galerie Eigen+Art auf, deren Initiator, Gerd Harry
("Judy") Lybke, 1983 in einer Privatwohnung begann, künstlerischen
Aktionen, Ausstellungen und Lesungen Raum zu geben. Der Band umfaßt
einen Textteil (Kap. I, II) und den eigentlichen Bestandskatalog (Kap.
III, IV), umfangreiche Register (Kap. V) erschließen die Nachweise auf
vielfältige Weise (Institutionen, Themen, Personen). In Kapitel I gibt
der im Vorwort als Insider vorgestellte Bearbeiter Franz Eckart einen
Überblick über die Kulturentwicklung der DDR in ihrer letzten Dekade.
Neben viel Bekanntem[2] erfährt man auch Neues. So sind beispielsweise
Eckarts Ausführungen über die Bedeutung, d.h. politischen
Implikationen der Siebdrucktechnik für die "Untergrundliteratur"
spannend zu lesen, desgleichen seine "soziologisch-psychologischen"
Deutungen der alternativen Bewegung. Sein Epilog Bekenntnisse : zum
deutsch-deutschen Bilderstreit" führt zwar vom Thema weg, aber zu
neuen Perspektiven hin: ausgehend von der westdeutschen Debatte über
die Bewertung der DDR-Kunst konstatiert er für die 80er Jahre
überraschende Parallelen in der Organisation und den Inhalten der
Kunst in Ost und West.
Antonia Grunenberg, wissenschaftliche Mitarbeiterin der
Forschungsstelle, widmet sich in Kap. II den sog. inoffiziellen
Zeitschriften, deren Geschichte, Charakteristika und redaktionellen
Profilen, den lokalen Szenen. In einer langen, durch Kursivierung
abgesetzten Vorbemerkung berichtet sie über Anfänge und Umstände ihrer
Sammeltätigkeit. Dieser persönlich gehaltene Erfahrungsbericht, ihre
Einschätzung und Bewertung des Phänomens, sind der eigentliche Gewinn
des Kapitels. Der Bestandskatalog umfaßt sieben Teile: unter A die
Künstlerbücher, Kunstmappen und Typoskriptsammlungen, B die
originalgraphischen Zeitschriften im Eigenverlag (knapp 60% der
geschätzten 238 erschienenen Hefte seien im Bestand der
Forschungsstelle), C die Plakate, D Ausstellungsmaterialien wie
Einladungen und Kataloge, E Dokumente der Mail-Art, F Kunstblätter,
unter G die Materialien aus dem kirchlichen Umfeld, Publikationen der
Bürgerbewegung der DDR und politische Literatur im Eigenverlag bis
1989; alle Nachweise orientieren sich in der Aufnahme an RAK-WB für
Kunstbibliotheken, sind jeweils durchnumeriert und tragen im Anhang
die Inventarnummer der Forschungsstelle. Obwohl Teil A und B sich in
gewissen Punkten mit der Bibliographie von Henkel/Russ ergänzen, ist
es doch immer wieder verwirrend, wie sehr beide Verzeichnisse in der
Beschreibung der Ausstattung identischer Exemplare voneinander
abweichen. Liegt es an mangelnder Standardisierung, an uneinheitlicher
Terminologie oder an einem unterschiedlichen Grad von Vertrautheit mit
der handwerklichen Materie?
Die Teile C und D (mit jeweils erstaunlichem Umfang) geben einen guten
Überblick über Plakatkunst und Ausstellungsbetrieb der DDR. Jedoch ist
den bibliographischen Angaben nicht anzusehen, was die Materialien zu
Dokumenten einer "alternativen Kulturszene" macht. Wenn die Plakate
wegen der überwiegend angewandten Technik des Siebdrucks ausgewählt
wurden (vgl. I.2.1 Über die Plakatsammlung), dann verschwimmen
eigentlich die inhaltlichen Aufnahmekriterien.[3] Teil E zeigt mit 167
Nummern eindrücklich die Mail-Art-Sammlung der Forschungsstelle, ein
"Archiv persönlicher und intimer Zeichen", die der Kommunikation
zwischen Künstlern und Galeristen diente, und als ein Tor zur Welt in
der DDR einen besonderen Stellenwert hatte. Diese Materialien hätten
eine ausführlichere Würdigung verdient. Zur Vertiefung sei die
detaillierte Chronik der DDR Mail Art 1975 - 1990[4] und der Band
Mail-Art-Szene DDR 1975 - 1990[5] empfohlen.
Die Zeitschriften und Materialien des letzten Teils G sind in Form
einer analytischen Bibliographie verzeichnet. Man habe sich dazu
entschlossen wegen der begrenzten Lebensdauer dieser Publikationen
(bei der Herstellung und Vervielfältigung wurden vielfach
papierzerstörende Substanzen verwendet), der geringen Auflagenhöhe und
wegen der noch ausstehenden detaillierten Forschungen. Die meisten
Publikationen sind zwischen 1987 und 1989 entstanden, inoffiziell,
billig hergestellt und in Auflagen von 200 - 400 Exemplaren unter der
Hand vertrieben. Sie stellen die aufregendsten Zeitdokumente dieses
Katalogs dar. Verdienst gebührt dem Bearbeiter für die vielen,
notwendigen Kommentare zu den einzelnen Beiträgen. Entsprechend lang
und detailliert ist das vor allem aus diesen Einträgen erzeugte
Themen-Register geworden. Kritik verdient das Personen-Register, nicht
aus philologischer Pedanterie, sondern weil ein solches Register das A
und O einer Bibliographie ist. Da ist kein einziger Akzent gesetzt, da
werden Umlaute mal aufgelöst, mal nicht, da gibt es insgesamt zu viele
Flüchtigkeitsfehler. Schlimmer noch: Die Pseudonyme sind nicht
aufgelöst, Namen daher nicht zusammengeführt, unterschiedliche
Namensformen sind nicht verwiesen, obwohl zuhauf in den
bibliographischen Einträgen zu finden.
Der schön gestaltete Band bietet einen wunderbaren Fundus für die
Forschung, ist aber von einer gewissen inhaltlichen Unausgewogenheit.
Man hätte sich gewünscht, mehr über jene Sammlungen zu erfahren, die
nur als Satelliten um die schon an anderer Stelle vielbeschriebenen
Künstlerbücher und originalgraphischen Zeitschriften gruppiert werden.
Und noch etwas: Einer Forschungsstelle hätte es nicht schlecht
angestanden, parallel zu ihren Beständen Literaturverzeichnisse
anzulegen und zu veröffentlichen.
Jutta Bendt
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