Ein wenig Licht in dieses bibliographische Gestrüpp bringt die
vorliegende Bibliographie von Peter Mendes. Der Titel täuscht etwas:
Während der Autor durchaus in der Einführung und in Ergänzungslisten
die Zeit ab 1800 behandelt, beginnt die ernsthafte Verzeichnung von
Titeln erst mit dem Jahr 1885. Mit gutem Grund: Die drei
Standardbibliographien von Henry Spencer Ashbee[2] (1834 - 1900) bieten
bis zum Stichjahr soviel Authentisches und aus zeitgenössischer
Kenntnis Untermauertes, daß es schwer fällt, dem viel hinzuzufügen.
Problematisch wird es in der Zeit nach dem Erscheinen der
Bibliographien von Pisanus Fraxi (so Ashbees Anagramm); denn während
dieser Blütezeit der Erotica-Publikation gibt es wenig, auf das man
sich mit Sicherheit stützen kann. Ashbee hat seine private
Erotica-Sammlung (mit offenbar zahlreichen von James Campbell Reddie,
einem begnadeten Bibliographen und Verfasser von Erotica, übernommenen
Stücken) dem damaligen British Museum vermacht, das indessen mehr an
der Cervantes-Sammlung des Stifters interessiert war und die Beigabe
mit wenig Begeisterung entgegennahm. Wie Mendes in einem Anhang
dokumentiert, wurden aus Ashbees Sammlung zahlreiche "Dubletten" usw.
aussortiert und der Vernichtung preisgegeben, wobei der Verdacht sich
erhärtet, daß es sich dabei nicht zuletzt um die zeitgenössische
Erotica-Produktion handelte, während ältere Drucke Gnade vor den Augen
der Bibliothekare fanden.[3] Dies ist der Grund dafür, warum man als
Bibliograph heute die größten Schwierigkeiten hat, Ausgaben
nachzuweisen und zu identifizieren, obwohl sie doch eigentlich in
Ashbees Sammlung existiert haben müssen.
Mendes hat sich bei seinen Untersuchungen natürlich der Sammlung der
British Library bedient und die Handexemplare von Ashbees
Bibliographien zu Rate gezogen, die manche handschriftliche Ergänzung
enthalten. Darüber hinaus hat er Privatsammlungen und die Bestände
verschiedener anderer Bibliotheken, zum Beispiel des Kinsey Institute
in Bloomington, Indiana und der University of Sydney Library,
herangezogen. Da er den Umkreis seiner Untersuchung auf schöne
Literatur in englischer Sprache, und zwar solche, bei denen der
Urheber (Verlag) nicht deutlich angegeben ist, beschränkt, bleibt
manches unberücksichtigt; so wird man z.B. solche Lehrbücher wie den
Duftenden Garten des Scheich Nafzaui vergeblich suchen.
Das Material ist chronologisch nach dem Erscheinungsjahr geordnet.
Verschiedene Ausgaben desselben Titels stehen unter dem ersten
Erscheinungsjahr; damit folgt Mendes der richtungsweisenden
Bibliographie du roman érotique au XIXe siŠcle von Louis Perceau
(Paris, 1930). Klandestine Druckwerke einem Verlag oder einem Drucker
zuzuordnen, ist gar nicht so einfach, da ja diese Angaben meist
unterdrückt werden. Deshalb hat Mendes die Typographie sorgsam
untersucht und die Druckwerke zu Gruppen zusammengefaßt, die
Ähnlichkeiten aufweisen, so daß sie möglicherweise vom selben Drucker
stammen. Während von einigen Druckern bekannt ist - z.B. durch
"offene" Publikationen - für welche Verleger sie arbeiteten, gibt es
natürlich verschiedene, die für mehrere Firmen tätig waren. Teils
haben die Verlage auch die Drucker je nach Situation gewechselt, denn
das Geschäft im Untergrund weist viele Risiken auf und führt daher zu
vielen Imponderablilien bei der sicheren bibliographischen
Beschreibung. Insofern sind die ermittelten und etablierten Gruppen
auch nur von relativem Wert. Hinzu kommt die Auswertung von
(klandestinen) Verlagskatalogen und Anzeigen in den Büchern selbst.
Hieraus lassen sich manche Schlüsse ziehen. Desgleichen helfen
manchmal zeitgenössische Bibliographien weiter, so die (im Manuskript
erhaltene) Erotica-Bibliographie des Kanadiers Lawrence Forster
(1913),[4] der seine Arbeit offensichtlich bei Charles Carrington, einem
bekannten Pariser (zeitweise Brüsseler) Erotica-Verleger drucken
lassen wollte.
Die Titelaufnahmen sind sehr sorgfältig, mit Kollation und
Zeilensprung, Fundstellen in Verlagskatalogen und dem Nachweis von
Exemplaren, die allerdings häufig nur in (nicht identifizierten)
Privatsammlungen vorhanden sind. Die Sammlung des bekannten und
inzwischen verstorbenen Erotica-Verlegers Charles Skilton (Luxor
Press), ist allerdings nicht mehr existent. Sonstige sachdienliche
Angaben (über Autor, Genese des Werkes oder die Ausgabe) sind in einer
Kategorie Notes zusammengefaßt.
Wichtig ist die Einleitung des Werkes, die einen Überblick über die
bedeutendsten Erotica-Verleger und -Drucker seit 1873 gibt, indem sie
identifiziert und die sie betreffenden, vielfach außerordentlich
mageren Daten zusammengestellt werden. Manchmal ist selbst der
"richtige" Name nicht bekannt, wie im Falle von William Lazenby alias
D. Cameron - wie hieß er nun wirklich? Dabei unterscheidet Mendes drei
Schwerpunkte verlegerischer Tätigkeit: London 1873 - 1910, Amsterdam
und Rotterdam 1887 - 1912 und Paris ca. 1889 - 1930. Paris war ja seit
langem eine wichtige Quelle für englischsprachige Erotica und hier ist
besonders Charles Carrington zu nennen, dessen Geschäft um die
Jahrhundertwende blühte (so wie später die Obelisk Press und die
Olympia Press, womit aber der Zeitraum der vorliegenden Bibliographie
bereits überschritten ist). Dann werden die ermittelten Gruppen von
Druckerzeugnissen anhand typographischer Kennzeichen zusammengestellt
und durch einige Illustrationen erläutert. Auf diese Gruppen wird bei
den Titelaufnahmen häufig Bezug genommen, wenn sich auch immer wieder
erweist, daß nur Ähnlichkeiten zu Gruppen bestehen, bzw. ein Titel
keiner Gruppe guten Gewissens zuzuordnen ist.
Die Anhänge enthalten eine Reihe von dokumentarischen Texten, z.B.
Presseberichte zu den Prozessen gegen den Verleger Lazenby/Cameron in
den Jahren 1876 - 1886, Charles Hirschs Memorien bezüglich der Genese
von Teleny (gewöhnlich Oscar Wilde zugeschrieben) sowie Texte zu
Leonard Smithers, Charles Carrington, Ashbees Erotica-Sammlung usw.
Den Abschluß bilden Register der Themen (der erotischen Romane), der
Titel und der Verlage, Drucker und Autoren. Außerdem gibt es
Übersichten über klandestine englischsprachige Drucke 1800 - 1884 und
klandestine Verlagskataloge.
Die Bibliographie ist außerordentlich beeindruckend. Die Fülle der
Titel und ihre genaue Beschreibung ist Ergebnis einer mühsamen
Detektivarbeit. Problematischer ist dann schon die Zuordnung und
Identifikation; hier ist vieles Indizienbeweis oder Vermutung anhand
verschiedener Kriterien und Hinweise. Außerordentlich viele
Vermutungen werden geäußert, die dem Leser in etlichen Fällen nicht
recht nachvollziehbar sind, aber zweifellos einen guten Grund in der
gesammelten Erfahrung des Autors haben. So gewinnt man öfter den
Eindruck, daß es ja richtig sein mag, daß es aber auch genau so gut
anders gewesen sein könnte.
Wenn etwas stört, dann ist es die nicht geringe Zahl von Satzfehlern,
von denen etliche konsequent durchgehalten sind wie z.B. Appollinaire
(statt Apollinaire) und Theime (statt Thieme, Drucker in Nymwegen).
Probleme scheint der Autor mit ei vs. ie zu haben (entsprechend der
englischen Aussprache; so liest man Texiera de Mattos, Vervine (statt
Vervaine) und Sadopaidiea (statt Sadopaideia).
Wenn ein Wunsch geäußert werden dürfte, so wäre es ein Hinweis auf
Neuausgaben. Viele der beschriebenen Titel liegen inzwischen im
Neudruck (meist als Taschenbuch) vor, teils unter ganz anderen Titeln.
Und vieles dürfte dem Bearbeiter bekannt geworden sein; denn
ungestraft verwendet man nicht Jahre auf dergleichen Detektivarbeit.
Aber die Information hat er leider für sich behalten.
Insgesamt: Ein ungewöhnliches, akribisch bearbeitetes, viel Neuland
erschließendes bibliographisches Werk, das in Fortsetzung zu Ashbees
Bibliographien ein Standardwerk der englischen Erotica-Bibliographie
genannt zu werden verdient.
Hartmut Walravens
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